Tags darauf passte er mich ab. Es war gerade dunkel geworden, als ich von meinem abendlichen Ausflug mit Cordula nach Hause ging. Ich hatte mich die letzten Tage oft mit ihr getroffen. Um wieder gut zu machen. Und langsam aber sicher kam die alte Freundschaft zurück.
Ich wühlte in meiner Tasche nach dem Hausschlüssel, während ich in die Silberne Fischgasse einbog. Ich sah ihn nicht dort stehen. Erst als ich die Haustür aufschließen wollte, bemerkte ich eine Bewegung hinter mir. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder. Mit einem Aufschrei drehte ich mich um, in Erwartung eines Überfalls, und meine Hand schloss sich um meinen Schlüssel, wie um ein Messer.
Er stand an der Hausmauer gegenüber. Bleich, mit einem Funkeln in den Augen und einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte.
„Matthias!“, stieß ich überrascht hervor. Mein Herz schlug mir immer noch bis zum Hals. Und die Erleichterung statt eines Verbrechers ein bekanntes Gesicht zu sehen, ließ mich die Tatsache verkennen, dass der Mann an der Mauer gegenüber Matthias war.
„Wieso, hast du jemand anderes erwartet?“, fragte er und klang dabei beherrscht und eiskalt.
„Ich dachte, du wärst ein perverser Irrer! Da bin ich aber froh, dass du nur ein Perverser bist!“, witzelte ich, fast betrunken vom Übermaß an Adrenalin und dieser Welle der Erleichterung.
„Verarsch mich nicht!“ herrschte er mich an und ich glaubte in seiner Stimme etwas Kratziges, Brüchiges zu hören.
Sein Befehlston ließ mich wieder auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen: In der Silbernen Fischgasse, vor meiner Haustür, ihm gegenüber. Ich holte tief Luft. Ich kam ins Wanken. Altbekannte Sehnsucht regte sich, wie ein Nachgeschmack auf etwas, das schon lange weg ist. Es kostete mich einige Kraft aber ich rang sie nieder, ließ sich das Schwarz in mir ausbreiten und sah ihm direkt in die Augen.
„Was willst du?“, schleuderte ich ihm entgegen, die Sinne geschärft, die Krallen ausgefahren. „Ich muss mit dir reden.“, bellte er zurück.
Wortlos drehte ich mich zur Tür und schloss auf. „Kein Bedarf!“, sagte ich, ohne ihn anzusehen und ging hinein.
Sein Fuß war in der Tür, ehe ich sie schließen konnte. Das hatte ich nicht erwartet und meine Arme gaben den Eingang frei. Er stand jetzt vor mir, sein Atem ging keuchend.
„Ich muss mit dir reden!“, rief er noch mal und seine Stimme hallte im Treppenhaus wieder.
„Ich will mich aber von dir hier nicht anschreien lassen. Hau ab! Ich habe nichts zu reden mit dir!“, zischte ich leise, wandte mich ab und wollte gehen. Da packte er meinen Arm und hielt mich fest. Seine Berührung war grob und es schienen tausend winzige Funken meinen Arm hinauf zu schießen.
„Nein!“, schrie ich und riss mich los, bevor er mich verwirren konnte.
Ich lief davon, die Treppen hinauf zu meiner Wohnung. Er kam hinterher. In meiner Panik traf ich das Schüsselloch nur schwer und kaum hatte ich aufgeschlossen, hatte er mich auch schon eingeholt. Er sprach schnell und leise und seine Stimme zitterte.
„Klara, bitte. Bitte, es war alles falsch. Ich wollte nicht schreien… ich… es tut mir leid… bitte… bitte lass uns reden.“ Es war nicht die Verzweiflung in seinen Worten, die ihn in meine Wohnung brachte. Es war meine Überraschung über die Tränen in seinen Augen.
Als er sich an meinen Küchentisch lehnte, mit beiden Händen die Tischkante umfassend, hatte er sich bereits wieder im Griff. Und auch ich hatte meine Überraschung überwunden. Ich wusste nicht, was er beabsichtige, doch um nichts in der Welt wollte ich mich wieder von ihm einfangen lassen. Gut, ein Teil von mit wollte das schon, aber diesen Teil hielt ich gewaltsam klein. Es war ohnehin nicht sinnvoll sich Hoffnungen zu machen, sagte ich mir. Wahrscheinlich war er nur hergekommen, um mich erneut zu beleidigen. Unschlüssig stand ich im Türrahmen und betrachtete ihn. Matthias sah unverschämt gut aus. Er hielt den Kopf gesenkt und seine kurz geschorenen Haare am Hinterkopf schimmerten im Licht. Unter seinem grünen T-Shirt zeichneten sich seine breiten Schultern ab und seine braungebrannten Beine steckten in schwarzen kurzen Hosen. Ich sah Anspannung in seinem Gesicht und konnte hören, wie er mit den Zähnen knirschte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zu sprechen begann.
„Warum tust du mir das an?“, fragte er tonlos.
„Was?“ Ich war verwirrt.
„Tu nicht so!“, blaffte er.
„Was?“, fragte ich wieder und spürte Ärger in mir hoch kriechen.
„Das weißt du ganz genau!“
„Was?“ Wieso spuckte er es nicht endlich aus?
Er holte tief Luft. „Dieser Kerl! Was treibst du mit diesem Kerl?“
Welcher Kerl? Ich schwieg. War er jetzt total durchgeknallt?
„Du brauchst gar nichts zu leugnen – Tobias hat euch gesehen! In der Linde, ganz verliebt.“ Matthias’ Stimme klang giftig. Er hob seinen Kopf und seine blauen Augen stachen in meine.
Langsam dämmerte mir, wen er meinte. Kai. Ich widerstand dem Impuls alles aufzuklären, mich zu rechtfertigen und meine gerechte Strafe für ein Feierabendbier mit Kai zu erwarten. „Das geht dich nichts an.“, sagte ich schlicht und hielt seinem Blick stand. Denn so war es auch.
Mit zwei schnellen Schritten, war er bei mir, packte mich an den Armen und schüttelte mich.
„Und ob mich das was angeht!“, schrie er und ließ mich abrupt los. Ich taumelte zurück und rieb mir die Stellen, an denen er mich gepackt hatte. Heftig atmend stand er vor mir. Er war plötzlich wie in sich zusammengesackt, beinahe hilflos. Er sah mich an und flüsterte ein verzweifeltes:
„Ich liebe dich.“
Der Schock traf mich hart und zerrte an meinen Wunden. Ich schloss die Augen und kämpfte gegen die Übermacht meiner Gefühle, die mich zu verschlingen drohte. Wochen voller Qualen lagen hinter mir. Er hatte mich verletzt, belogen, begehrt, mir Hoffnungen gemacht und mich mit ihnen vernichtet. Ich war am Ende meiner Kräfte. Gerade hatte ich begonnen mich wieder aufzurichten. Er durfte nicht kommen und mich erneut mit sich reißen! Ich atmete tief ein und schließlich ließ ich der Wut ihren Raum.
„Ich liebe dich? ICH LIEBE DICH?!“ Ich nahm Anlauf. „Ich scheiß auf dein ICH LIEBE DICH! Wo war denn dein ICH LIEBE DICH, als du mich abserviert hast? Wo war es denn, als du mich zu deiner Nutte gemacht hast? Und wo war es, als du mich gegen dieses Flittchen eingetauscht hast? Hä?“ Ich holte Luft, wollte weitermachen.
„Sandra… sie ist…“
„Das ist mir egal!“ Ich war rasend vor Wut und es tat gut, sie Matthias endlich ins Gesicht zu knallen.
„Ich hab Schluss gemacht.“ Auch er erhob jetzt seine Stimme.
Na prima. „Und dann denkst du, du kommst hierher, heuchelst ein ICH LIEBE DICH und alles ist wieder in Ordnung? Weißt du überhaupt was du tust? Weißt du überhaupt was du anrichtest?“ Meine Stimme brach und meine Augen füllten sich mit Tränen.
„Klara ich…“, setze er an.
„Nein!“ Ich wollte jetzt nichts mehr hören. „Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!“ Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mit schwindlig wurde.
Matthias kam und hielt mich fest. „Klara, bitte…“
„Nein!“
„Klara lass mich doch jetzt endlich mal ausreden, verdammt!“
Ich verstummte. Ich gab auf. Kraftlos rutschte ich am Türrahmen entlang zu Boden und umfasste meine Knöchel mit den Händen.
Matthias setzte neben mich und legte eine Hand auf mein Knie. Ich ließ ihn gewähren. Ich war so müde.
„Klara, ich hab dich immer geliebt – nein, bitte hör mir zu!“, bat er, als ich unwillig meinen Kopf abwandte. „Ich bin so dumm gewesen Klara. Ich dachte sie hätten Recht. Ich habe mir von Tobias und den anderen einreden lassen, du wärst nicht die Richtige für mich. Sie haben gesagt, wir hätten nichts gemeinsam. Deine direkte Art hat ihnen nicht gefallen. Deine Freunde waren zu freakig und dein Beruf… Und ich hab mich bequatschen lassen. Ich kenn die doch schon mein ganzes Leben, Klara! Wir waren immer einer Meinung. Und als ich dir dann von meinen Plänen erzählt habe, in die Schweiz zu gehen… und du in Regensburg bleiben wolltest… das hat sie bestätigt. Ich dachte: Früher oder später wird es sowieso auseinander gehen… wieso dann nicht jetzt?“
Ich lächelte ein bitteres Lächeln. Das war zu albern. Das war zu banal, um wahr zu sein.
„Und als du dann gekommen bist, um deine Sachen abzuholen – mein Gott, du hast so toll ausgesehen und so gut gerochen und ich wollte dich so sehr. Aber irgendwie konnte ich auch nicht mehr zurück, verstehst du?“
Ich wollte gar nicht verstehen. Ich wollte, dass er damit aufhörte. Erinnerungen drängten sich in meinen Schädel. Verzweifelt schloss ich die Augen.
„Das mit Sandra…“, er schnaubte leise „Sandra war nur das Alibi. Damit die Jungs die Klappe halten. Aber sie war nicht du.“ Seine letzten Worte waren ein Flüstern. Ich spürte seinen Atem ganz nah an meinem Gesicht. Als ich die Augen öffnete, sah ich in seine. So wie früher. Er öffnete seine Lippen und neigte den Kopf.
„Bitte geh jetzt.“, sagte ich, stand auf und ging in den Flur, um ihm die Tür zu öffnen.
Schon wieder Matthias. Immer und immer und immer wieder Matthias. Ich saß vor dem Computer und starrte auf die Email, die ich an Verena geschrieben hatte. Sollte ich sie wirklich abschicken? Die Email war voll von Matthias. Von seinem Auftauchen, seinen Tränen, seiner Eifersucht, seiner Liebeserklärung bis zu seinem Geständnis und meinem Rauswurf. Schon komisch, hatte ich geschrieben, dass er erst dann drauf kommt, dass er mich liebt, wenn er denkt, ich hätte was mit einem Anderen. Und über die platte Ausrede, seine Freunde hätten ihn dazu getrieben mit mir Schluss zu machen, hatte ich mich ebenfalls mächtig aufgeregt.
Aber jetzt, wo ich meine Email zum dritten Mal las, ekelte mich schon fast vor meinen Worten. Sein Name in jeder Zeile und meine Wut überall dazwischen. Das konnte so nicht bleiben.
Denn ich begriff, dass ich niemals von ihm loskommen würde, wenn ich nicht aufhörte an ihn zu denken. Und über ihn schreiben, war an ihn denken.
Also ließ ich das Geschriebene verschwinden. Buchstabe für Buchstabe im Rückwärtsgang. Und in das jetzt leere Emailfenster schrieb ich:
from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj:
Di 23. Jun 2005 17:23
servus verenababy!
ich glaube es geht jetzt echt aufwärts. nur noch knappe sechs wochen, dann sind ferien! übermorgen bin ich endlich dieses schreckliche theater los (premiere…) und kein halbes jahr mehr, dann bist du wieder da.
am freitag werd ich einen drauf machen. das wird sicher klasse!
so, und jetzt kauf ich schnell noch ein paar grillwürschtl – aus vorfreude!
bussi,
die klara
Die Premiere war die totale Pleite und erhielt trotzdem tosenden Applaus. Mein Christian-Darsteller übersprang beim ersten Auftritt prompt einen ganzen Absatz und brachte damit alle anderen auf der Bühne mächtig ins Schwitzen. Ihm fiel es dagegen gar nicht auf und so redete er sich immer mehr ins Selbstvertrauen. Das ganze restliche Stück malträtierte er seine Mitspieler mit erfundenen Sätzen und falschen Stichwörtern. Er selbst fand sich zum ersten Mal großartig. Alle anderen hassten ihn. Hinter der Bühne heulte Tatjana – Serkan hatte sie abserviert. Das war nur logisch gewesen, denn eine aus der Theatergruppe fehlte noch in seiner Sammlung. Samantha. Serkan konzentrierte sich den ganzen Abend nur darauf, sie rumzukriegen. Auch auf der Bühne. Und so patzte er ein ums andere Mal, denn sein Cyrano war vergessen. Samantha merkte von alledem nichts. Sie leierte weiter fad ihren Text herunter und schlurfte über die Bühne, als ob sie das alles nichts anginge.
Als der letzte Akt geschafft war, Cyrano tot und der Vorhang gefallen, brandete begeisterter Applaus im Publikum auf. „Bravo!“, schrieen Samanthas Eltern hinter mir und ihre Mutter wischte sich mit dem gut bestückten Ringfinger die Tränen aus den Augen.
„Das ist der Vorteil an Schulaufführungen“, dachte ich, während ich ebenfalls ausdauernd in die Hände klatschte „das Publikum besteht aus stolzen Eltern und aus Lehrern, denen’s egal ist. Es ist immer ein voller Erfolg.“
Und mit gemeißeltem Grinsen nahm ich bei der anschließenden Premierenparty die Glückwünsche gerührter Eltern entgegen, die ihr Kind bereits in Hollywood sahen.
Ich selbst betrachtet die gesamte Premiere ziemlich nüchtern, hatte vorher kein Lampenfieber gehabt und verspürte keine Erleichterung hinterher. Vielmehr machte ich einen Haken hinter die Sache, schloss ab.
Ich genehmigte mir ein drittes Glas Sekt und gesellte mich zu Kai.
„Mann waren die schlecht“, polterte er mir mit einem breiten Lächeln entgegen. Als ich die Augenbrauen hob, korrigierte er sich schnell: „Äh, nein, äh… ich wollte dir jetzt nicht… also Respekt Frau Regisseurin!“ Er hob sein Glas und prostete mir zu. Ich lächelte. „Lass gut sein – sie waren grottig.“ Und dann lästerten wir aus vollem Herzen und lachten uns kaputt über Gerlinde, die sich mit sichtlichem Unbehagen beglückwünschen ließ.
„Gleich rennt sie aufs Klo und flüchtet durchs Fenster!“, flüsterte mir Kai ins Ohr und tauschte unsere leeren Gläser gegen volle. Ich prustete in mein Glas und nickte.
„Apropos flüchten…“, setze Kai an.
„Was?“, wollte ich wissen und wartete auf den nächsten Witz. Ich hätte ewig so weitermachen können.
„Was hältst du davon, wenn wir uns auch abseilen? Du hast deine Pflicht als Regieassistentin getan und es würde sicher niemandem auffallen wenn wir woanders hingehen würden und ein wenig Spaß…“
Wie aus dem Nichts schoben sich Bilder vor mein inneres Auge. Matthias, wie er mit seinem Blick alles klar macht, seine Hand unter meinem Shirt, irgendwo in einer Seitengasse, sein fester Griff um meine Hüften an einem Baum irgendwo im Park, sein verschwitzter Körper auf meinem am Ufer des Regens.
Mir blieb der Mund offen stehen und ich starrte Kai ins Gesicht. Das konnte unmöglich sein. Oder war es so? Konnte er mir ansehen, dass ich so eine war? Dachte er, ich wäre für alle verfügbar?
„Was ist los?“, fragte Kai und riss mich aus meiner Empörung. „Magst nicht? Auf ein Bier in die Stadt?“
Ich brauchte ein wenig, um zu kapieren, dass er nicht das wollte, was ich angenommen hatte. Innerlich verpasste ich mir eine Ohrfeige. „Nur ein Bier?“, fragte ich sicherheitshalber noch einmal.
„Nur ein Bier. Und damit du bei mir nicht immer falsche Motive vermutest, lass dir sagen: Ich hab ne Freundin. Sie heißt Claudia und wohnt in Amberg. Ich bin glücklich verliebt – naja, ich wäre glücklich verliebt, wenn sie endlich herziehen würde.“
Ich entspannte mich auf ganzer Linie, schnappte mir meine Tasche, kippte den Rest Sekt hinunter und verschwand mit Kai von der Party.