In Ordnung – Kapitel 1

„Das ist nicht dein Ernst!“ Ich saß aufrecht und nackt im Bett, immer noch nicht bereit zu akzeptieren, dass er gerade mit mir Schluss machte. Stattdessen versuchte ich mich an die vergangene Nacht zu erinnern, die Matthias zufolge unsere letzte Nacht gewesen sein sollte. Aber wollte mir nicht so recht gelingen. Es war schön gewesen. Leidenschaftlich. Wir waren angetrunken zu ihm nach Hause gelaufen – aufgekratzt und voller Vorfreude. Doch so sehr ich mich auch konzentrierte um Details hervor zu holen, ich konnte nirgendwo die Zeichen des Abschieds erkennen. So hätte es aber doch sein müssen. Er hätte doch gestern bereits wissen müssen, dass mit dem Morgen das Ende kommen würde. Schließlich hatte er es ja geplant. Er war schon angezogen und hatte seine Ausreden beendet, als ich endlich fähig war, mich zu bewegen. Er sah mich feindselig an und ich schämte mich plötzlich. Nackt vor einem jetzt Fremden. So war er noch nie gewesen. So gewöhnlich. So gefühlskalt. Sein Blick traf mich hart und schmerzhaft. Es war, als ob seine Ablehnung mich zu einem hässlichen Wesen mutieren ließ. Mit Oberschenkeln voller Dellen, einem Busen ohne Halt und viel zu großen Füßen. Ich stolperte auf ihnen durchs Zimmer – hastig auf der Suche nach meiner Kleidung. Nicht eine Träne wollte ich weinen. Das macht man nicht. Nur klammernde Heulsusen machen das. Stattdessen versuchte ich das letzte bisschen Kraft, das er mir gelassen hatte in Wut zu verwandeln. Doch es reichte gerade mal, um die Fassung zu behalten. „Ein letzter Kuss, nur noch ein letzter Kuss…“, flehte es in meinem Kopf, als ich an ihm vorbei zur Tür ging. Das Verlangen danach war beinahe übermächtig. Doch er sah mich nicht an und ich konnte mich zusammenreißen. Die Zähne fest aufeinander gepresst, die Stöckelschuhe noch in der Hand und mit angehaltenem Atem schlug ich seine Wohnungstür hinter mir zu.
Ganze drei Kreuzungen lang lief ich ohne einen richtigen Atemzug. Dann gab ich auf, stoppte, riss den Mund auf und schluchzte.
Ich stand da, ich weiß nicht wie lange und ließ die Wunde aufklaffen und bluten. Leute gingen an mir vorbei, murmelnd. Ich schloss die Augen um sie nicht ansehen zu müssen. Noch liefen keine Tränen. Aber es konnte nicht mehr lange dauern. Ich fühlte, wie sie sich stauten hinter meinen Lidern. Ich musste nach Hause, bevor auch dieser letzte Damm brach. Es war eigentlich nicht weit, doch ich hatte weder Fahrrad noch Auto. Dann eben mit dem Bus. Ich zwang meinen Kiefer, sich wieder zu schließen und öffnete vorsichtig die Augen. Noch keine Tränen. So weit so gut. Ich schluckte das nächste Schluchzen hinunter, hielt alles klein und setzte mich wieder in Bewegung.
Es war Sonntag, erinnerte ich mich dumpf. Die Busse fuhren sonntags nur alle 10 Minuten. „Maximal 10 Minuten warten, maximal 10 Minuten warten, nur noch 10 Minuten, nur noch 10 Minuten…“ ich wiederholte es wieder und wieder. Es hielt mich aufrecht. Ich versuchte nicht in die Gesichter der wenigen Menschen an der Haltestelle zu sehen. Sie würden wissen, was los war, mit nur einem ungeschulten Blick. Mann, die ist ganz schön fertig. Ich war sicher, dass mich mein Gesicht verriet, also starrte ich auf den Boden, zählte die breitgetretenen Kaugummis. Es waren 27, als mein Bus kam.
Er war beinahe leer, doch ich setze mich nicht. Ich würde nicht wieder aufstehen. Ich würde fahren und fahren und fahren. Ich musste mich weiter in der Gewalt haben, obwohl mich die drängenden Tränen quälten.
Noch immer hielt ich meine Schuhe in der Hand. Als der Bus zum zweiten Mal hielt, sprang ich hinaus auf den Gehsteig und rannte die Straße entlang, zur Haustüre hinein und die Treppen nach oben. Vor meiner Wohnungstür im dritten Stock kämpfte sich das Schluchzen erneut durch meine heftigen Atemzüge und endlich, als ich die Dielen meiner Wohnung betrat, die Schuhe fallen ließ und die Tür hinter mit zufiel, gab es auch für die Tränen keinen Grund mehr zu warten. Ich lehnte mich an die Tür und rutschte zu Boden. Meine Strümpfe hatten keine Sohlen mehr. Laufmaschen zogen sich meine Beine hinauf.
Meine schönsten Strümpfe. Ich weinte und weinte. Um mich, mein Elend, meine Strümpfe. Um diese Wunde, die garantiert nie heilen würde. Tränen liefen mir die Wangen hinunter auf meine Bluse. Sie war am Kragen schon richtig durchnässt, als es endlich aufhörte. Ich atmete langsam und prüfend. Ich wollte sicher gehen, dass es vorbei war. Vorbei – das mit Matthias war vorbei. Meine Kehle schnürte sich noch einmal zusammen, doch die Augen blieben trocken.
„Genug jetzt!“, sagte ich laut zu mir selbst! „Ab in die Dusche! Wasch dir diesen Typ von den Schenkeln!“

 

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subj: hilfe!
So 15 Mar 2005 14:03

es geht mir schlecht. matthias hat schluss gemacht! dieser arsch! ich würde ihn am liebsten…. aaaaaaahrgh!!!!!!!!!!!!!!!!! oh, ich bin so dumm gewesen!!! so blöd!
wir waren essen gestern. es war alles in ordnung gewesen. ich weiß nicht wieso, echt! ich meine, wir hatte noch sex und alles und dann am nächsten morgen sagt er – ganz banal – sagt: „ich muss schluss machen!“ ich dachte ich hör nicht recht. und dann gleich noch die nächste floskel hinterher. „es hat nicht funktioniert“. was hat denn BITTESCHÖN nicht funktioniert???? ich lieg nackt in seinem bett und er sagt „es hat nicht funktioniert“. es hat ganz großartig funktioniert! er liebt mich nicht mehr – DAS ist doch die wahrheit! oh, das tut zu weh, das kann ich gar nicht weiterdenken.
aber das passt gar nicht zusammen. wir hatten spaß, wir hatten SEX – ER hatte seinen spaß. das passt nicht!
ich konnte gar nichts sagen. er war so gemein.
fast ein jahr beziehung und er sagt: „es hat nicht funktioniert“
das merk ich doch nicht nach einem jahr!!!! das muss mir doch schon früher auffallen.
wahrscheinlich hat er eine andere. männer haben doch immer eine andere, können nicht allein sein, brauchen ein weibchen, das ihnen dient, wie mutti, das kocht und putzt und sagt: „schatz, du bist der beste!“ ich verkriech mich jetzt. ich mach mir nen rotwein auf und betrinke mich. ich…
wollte dich nur auf den neuesten stand bringen.
grüße ans andere ende der welt.
komm bald wieder, komm wieder!!!!
klara
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subj: keine sorge
So 15 Mar 2005 16:23

oje, du machst dir jetzt doch keine sorgen um mich? bitte nicht. es geht mir gut. ich habe meine flasche rotwein und bin nicht in der stimmung dummheiten zu machen. ich krieg mich schon wieder ein. matthias ist ein arsch.
ich hab schon so viele kerle überlebt, da schaff ich den auch noch. bitte mach dir keine sorgen um mich!!!!! das ist unnötig!!!! wirklich.
wirklichwirklich.
ich hoffe, bei dir läuft alles gut.
rotweingetränkte grüße,
klarababy.

PS: und ich war keine klammernde heulsuse. ich hab nicht geweint! sei stolz auf mich!

 

SMS von „Vreni“ an „Klärchen“
Liebe klara, hab grad kurz mails gecheckt und deine nachricht gelesen. Scheiße nochmal! So ’n pisser! Pickel am ARSCH soll er kriegen. (das ARSCH schreibt mein handy übrigens von sich aus groß, wird schon wissen warum!) Konnte nicht antworten, weil paul gleich weiterwollte, aber morgen bestimmt! Lass dich derweil nicht hängen, bitte!! Bis morgen süße!:-*
Mit Sicherheit hätte ich diese Woche überstanden. Es lief sogar erstaunlich gut. Die Arbeit betäubte mich, die Schüler lenkten mich ab. Bei den Neuntklässlerinnen bekam Jenny den Volleyball mitten ins Gesicht. Ich musste Nasenbluten stillen, Eisbeutel organisieren und trösten. Beinahe hätte ich auch noch Tamaras Kotze aufwischen dürfen. Aber sie schaffte es gerade noch so aufs Klo. Selbstverständlich mit fünf Freundinnen im Schlepptau. Da war die Stunde eh schon gelaufen.
Die Fünftklässlerinnen heiterten mich auf. Wir übten einen Tanz ein und sie waren so mit Feuereifer dabei, dass ihre pausbäckigen Gesichter ganz rot anliefen.
Doch dann kam Cyrano. Die Theaterklasse am Donnerstagnachmittag. Frau Pfeiffer – Gerlinde – hatte sie mir überlassen. Und dann noch genau diese Szene in der Roxane dem armen Cyrano das Herz bricht, ohne es zu wissen. In der er ihr Glück über das seine stellt und beschließt ihr nie zu sagen, dass sein Herz unkittbar zersplittert ist.
Serkans Herz war nicht zersplittert. Serkan, der 17-Jährige Alleswisser. Mister Ultracool. Serkan kratzte gar nichts – schon gar nicht diese fade Samantha, die die Roxane nur deshalb spielen durfte, weil alle anderen noch viel weniger drauf hatten, als sie. Ach, das Ganze war doch von vorne herein schon zum Scheitern verurteilt gewesen. Warum ich überhaupt versucht habe, da was zu retten…
„Serkan, nein, bitte Serkan, hör mir mal zu. Serkan: Bist du schon mal verliebt gewesen?“ Die falsche Frage für einen coolen 17-Jährigen. Er stutzte kurz, erhob sich von seinem Stuhl und hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. „Hey, isch liebe alle Frauen.“ Die Hände lässig in den Hosentaschen, die dunklen Augen glitzerten. Er grinste und zeigte zwei Reihen strahlend weißer Zähne. Der versuchte doch jetzt nicht echt mit mir zu flirten? Oh Mann. Die Riege der Mädchen hinter der Bühne kicherte. Sie waren alle verliebt in Serkan. Eine nach der anderen würde bald erfahren wie das ist, mit gebrochenem Herzen. Als ich daran dachte ziepte etwas warnend in der Herzgegend. Schnell holte ich Luft, verdrängte das leise Stechen und schenkte den Mädchen hinter der Bühne ein mitleidiges Lächeln, das sie nicht verdient hatten und das sie auch nicht sahen. Alle Augenpaare, die durch die Schlitze zwischen den Bühnenteilen spähten, waren auf Serkan gerichtet. Ihre Herzen waren jung und würden schnell heilen. Meines dagegen… ich schüttelte den Kopf, verscheuchte den Gedanken.
Es musste anders gehen. Wieder und wieder erklärte ich. Sie spielten die Szene nochmal und nochmal und nochmal. Es war grässlich. Ein ums andere Mal. Ich redete, plapperte – niemand hörte mehr zu. Samantha kaute gedankenverloren Kaugummi und Serkan begann Faxen zu machen. Es machte mich wütend, dass ich nicht durchkam. Sie waren so unverschämt gleichgültig. Warum waren sie denn überhaupt hier? Ich konnte nicht aufhören zu reden, unterbrach ihr Spiel jetzt nach jedem Satz. Samantha gähnte, Serkan streckte sich ungerührt auf seinem Stuhl, da platzte mir der Kragen.
Diese Männer, diese Pest! Gedankenlos und gefühlskalt, das waren sie allesamt! Und unfähig obendrein. Keiner war wie Cyrano! Keinem konnte das Herz brechen. Unkaputtbar und kalt wie Metall war es innendrin – bei allen! Das was sie taten, das was sie wollten war: Zerstören. Auf anderen herumtrampeln, Schutt und Asche hinterlassen und dabei selbst mit heiler Haut davonkommen! Ich ballte meine Hände zu Fäusten, schluckte schwer, rag um Fassung. „Serkan, verdammt jetzt!“, schrie ich und die Tränen schossen aus meinen Augen. Der Schmerz expoldierte in meinem Bauch und bahnte sich seinen Weg bis in die letzten Winkel meines Körpers.
Ich ließ die verdutzten Schüler in der Halle zurück, rannte aufs Klo und übergab mich. Mein Kopf surrte, mir war schwindlig und ich konnte diese Tränen nicht stoppen.
„Es ist gut!“, schrie ich, als ich vor der Kabine Schritte hörte. „Alles wieder in Ordnung.“
„Klara? Mein Gott sind Sie das?“ Es war nicht, wie erwartet eine Schülerin, die mir nachgelaufen war, es war Regine, die Lateinlehrerin. Scheiße.
„Regine, ich… mir ist schlecht geworden. Es geht schon wieder.“
Regine war offensichtlich anderer Meinung, denn als ich die Kabinentür öffnete, musterte sie mich besorgt. Kurzerhand schleppte sie mich zum Rektor, organisierte, ohne auf meinen Protest einzugehen, eine Vertretung, drückte mir im Lehrerzimmer meine Autoschlüssel in die Hand und schob mich mit mahnenden Worten nach draußen.

Nicht, dass mir Stille etwas ausmachen würde. Es gibt nur Momente, da erdrückt sie einen. Und seit gestern Nachmittag reihte sich ein solcher Moment an den anderen. Ich stellte den Fernseher auf Anschlag, doch es half nichts. Als Herr Reinsch aus dem zweiten Stock zu mir raufkam und mich bat, doch leiser zu drehen, entschuldigte ich mich und schaltete den Fernseher ab. Ich machte mir einen Kaffee und steuerte den Computer an. Von mir aus konnte ich in Computerspielsucht versinken – wenn nur endlich diese Stille aufhören würde, mich anzuschrein!
Ich spielte so lange, bis Spielkarten vor meinen Augen tanzten, sobald ich sie schloss. Es war Zeit ins Bett zu gehen.
Nur an Bruchstücke meines Traums konnte ich mich am nächsten Morgen noch erinnern. Ich war viel zu oft viel zu nackt gewesen und meine Strümpfe waren kaputt. Ich war froh, dass ich mich an den Rest nicht erinnern konnte. Aber schon alleine das Wissen, was es wahrscheinlich gewesen war, reichte aus, um mich mies zu fühlen. Heute keine Arbeit – Regine hatte auch das geregelt. Ein Langes Wochenende – fein. Noch viel mehr Stille, die es zu ertragen galt.
from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: ich hasse frei-haben
Fr 20 Mar 2005 7:39

hey vreni!
stell dir vor, sie haben mich zur genesung nach hause geschickt. ich hatte gestern einen kleinen übelkeitsanfall während der theaterproben in der schule (jeder hätte gekotzt, wenn er diese proben hätte mit ansehen müssen!!!)
du kannst dich auch gleich wieder beruhigen. nicht jeder der kotzt ist auch gleich schwanger. das hätte mir ja gerade noch gefehlt.
und jetzt ist mir langweilig. so langweilig, dass ich meinen eigenen highscore im computersolitaire seit gestern abend schon viermal erneuert hab.
die haben mir echt ein verlängertes wochenende geschenkt und ich kann’s grad gar nicht brauchen… da geht mir momentan einfach zuviel im kopf rum.
soll ich raus gehen?
vielleicht ist das gar keine schlechte idee…
so what, I’m still a rockstar!?

bittebitte schreib mir möglichst bald möglichst viele neuigkeiten von dir…
bitte
ich brauche dringend anderen input!
grüß mir die wombats,
klara

„Bist du dir sicher, dass du DA hin willst? Ich meine, ER könnte doch auch da sein.“ Cordula hatte den Nagel mal wieder voll auf den Kopf getroffen. Selbstverständlich wollte ich DA hin. Eben weil ER da sein könnte. Wozu war ich sonst so aufgebrezelt? Ich wollte ihm zeigen, dass es mich noch gab, dass ich nicht heulend in meiner Wohnung hockte und um ihn trauerte. Ich würde trauern, wenn ich wieder zurück war. Doch jetzt sollte er glauben, dass es mich so wenig kratzte wie ihn.
Ich nickte Cordula zu und wir betraten den Laden. Es war noch nicht viel los. Wir waren zu früh unterwegs, aber ich hatte es zu Hause kaum mehr ausgehalten. Um Viertel vor acht hatte ich bereits fertig geschminkt und aufgetakelt auf der Couch gesessen und hatte auf Cordula gewartet. Sie kam, wie verabredet, um halb neun.
Und jetzt hatten wir die freie Auswahl an Barhockern. Mein Blick glitt suchend durch den niedrigen, schummrigen Raum, an den weiß gekalkten Gewölben entlang und über die Gesichter der wenigen Gäste. Matthias war noch nicht da.
Ich bestellte ein Bier und überredete Cordula auch zu einem. Ich wollte nicht riskieren, dass Cordula mehr mitbekam, als sie sollte. Sie war nicht meine erste Wahl gewesen, als ich beschloss den Freitag nicht zu Hause zu verbringen. Zu fad, zu nett, zu gewöhnlich für so einen Abend. Aber sie war eine der Weinigen ohne partnerschaftliche Verpflichtungen an diesem Wochenende. Noch vor einer Woche, schoss es mir durch den Kopf, hatte ich auch noch so etwas wie partnerschaftliche Verpflichtungen. Wie es wohl Cordula die letzten Jahre ergangen war? Alles um sie herum war verschmust und glücklich, plante Hochzeiten, teilte die Hausarbeit. Cordula hatte einen Hund. Mein Mitleid für sie mischte sich mit Mitleid für mich. Ich würde bald auch so sein. Einsam. Ich war es doch schon. Vielleicht sollte ich gleich morgen ins Tierheim fahren und mir einen Hund mit nach Hause nehmen.
„…langsam merk ich den Alkohol…“ säuselte Cordula neben mir. Ich bestellte ihr und mir noch ein Fläschchen und suchte zum x-ten Mal den Raum ab. Er füllte sich langsam. Kein Matthias.
„Ist doch gut, wenn er nicht kommt. Dann können wir so richtig einen drauf machen“, erriet Cordula meine Gedanken. Wahrscheinlich war es auch zu einfach. Aber ich wollte ihn hier haben. Ich würde nur einen Drauf machen, wenn er mich dabei sah! Ich stürzte mein Bier hinunter, bestellte gleich noch eins. Was für einen Sinn hatte es, hier zu sitzen und zu warten? Mit Cordula an meiner Seite, die gerade die neuesten Kinofilme in ihre dramaturgischen und optischen Einzelheiten zerlegte.
Ich versuchte nicht all zu unhöflich zu sein, steuerte hier und da mal meine Meinung bei und rang mir ab und zu sogar mal ein Lächeln ab.
Doch innerlich war alle Hoffnung schon längst zerbröselt. Mechanisch schaute ich immer wieder von der Uhr auf meinem Handy, zur Eingangstür, durch den Raum und zurück. Er kam nicht. Warum kam er nicht? Wo war er? Und mit wem war er woanders?
Es war schon viel zu spät, Cordula lallte bereits und wir hatten gerade beschlossen zu gehen, da entdeckte ich Tobias im Gedränge. Hinter ihm Stefan und Mike. Kein Matthias. Seine Freunde waren hier, aber wo war er?
Mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen, als ich Tobias’ Blick kreuzte. Er lächelte sein falsches, arrogantes Lächeln – ich erkannte mit Entsetzen einen Hauch von Schadenfreude – und drehte sich wieder zu den anderen.
Noch schiefer konnte es kaum laufen. Nicht nur, dass ich hier so offensichtlich wartete und meinen Kummer zu ertränken versuchte, jetzt würde er es auch noch erfahren. Ich konnte es mir nur zu lebhaft vorstellen, wie sie sich kringelten vor Lachen, wenn sie es Matthias erzählen würden. „Hey wir haben deine Ex gesehen. Sie hat auf dich gewartet… richtig erbärmlich, die Kleine!“ Und Matthias würde am lautesten von allen lachen.
Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte den Zorn, der in mir aufstieg, im Zaum zu halten. Ich musste etwas tun, musste mich retten irgendwie.
Cordula schaute erschrocken auf, als ich ohne ersichtlichen Grund und viel zu laut anfing zu lachen. Sie kicherte einige Sekunden mit, lies es dann aber wieder bleiben. Ich nicht. Ich lachte und lachte, aufgesetzt und hysterisch, lachte, bis mir die Tränen kamen und lachte weiter. Um mich herum verstummten die Gespräche. Ich hätte längst aufhören sollen zu lachen, aber ich konnte nicht. Beim besten Willen. Cordula packte mich am Arm und zischte ein „Krieg dich doch wieder ein, Mensch!“, als sie mich nach draußen zog.
An der frischen Luft war es dann schlagartig vorbei. Mir war schwindlig und ich lehnte mich an eine Hausmauer um wieder zu Atem zu kommen. Cordulas Gesicht war ernst, ihre Augen waren benebelt und sie nuschelte ein wenig.
„Echt, das war jetzt wirklich peinlich!“
Dann packte sie mich am Arm und wir wankten ohne ein weiteres Wort davon.

Noch zwei Wochen wartete ich auf Matthias. Endlose Wochen. Wochen voller Trauer, Scham, Wut und Selbstmitleid. Ich machte mich zum Affen. Ging in unsere Bar, lief unsere Spazierwege im Park ab und verlegte meine Joggingstrecke in seine Wohngegend. Zum Glück für mich und andere tat ich es aber allein. Ich musste nichts erklären, keine Freunde mit reinziehen. Ich demütigte mich allein.

„Sag mal, wann wolltest du mir sagen, dass ihr getrennt seid?“, Sandras Stimme knarzte vorwurfsvoll durch den Hörer.
Sie war beleidigt, weil sie sich als meine Freundin verstand und von mir hätte informiert werden wollen. Dabei war sie doch nur eine aus meinem Seminar im letzten Studienjahr, mit der ich noch ab und zu mal auf ’nen Kaffe ging. Vielleicht sollte ich eine Flugblattaktion starten, nur damit niemand mehr in ein Fettnäpfchen tappen konnte. Auch die entferntesten Bekannten nicht.

Aus und Vorbei!
Matthias und Klara,
das Traumpaar des letzten Jahres,
existiert nicht mehr.
Am 15. März um 10.32 Uhr ging ihre Beziehung in die Brüche.
Als Grund nannte Matthias:
„Es hat nicht funktioniert!“
Bitte keine Beileidskarten – zumindest nicht an Matthias.

Sandra war ins Fettnäpfchen getappt. Sie hatte Matthias getroffen. Heute morgen im Supermarkt. Wahrscheinlich hatte er frei. Oder Urlaub? Ich konnte mich nicht an seinen Urlaubsplan erinnern. Wo wir doch heuer nach Norwegen hatten fliegen wollen. Schon der Gedanke an die Zweisamkeit, die ich nie mehr haben würde, schossen mir die Tränen in die Augen. Doch ich konnte mich, angesichts Sandras Anwesenheit am anderen Ende der Leitung, noch zusammenreißen.
„Mein Gott, das war so peinlich, verstehst du?“
Ja, ich verstand. Aber es war mir egal. Das war meine Beziehung, die da in die Brüche gegangen war. Mein Herz war kaputt und ihr war es peinlich.
„Du, er hat aber überhaupt nicht gut ausgesehen.“ In Sandras Stimme schwang ein abwartender Unterton mit. Ich sollte drauf anspringen. Aber obwohl sich alles in mir nach Neuigkeiten von Matthias sehnte, wollte ich ihr den Gefallen nicht tun. Ich würde mich deshalb lieber die nächsten Tage selbst geißeln, als Gegenstand ihres Tratsches zu werden.
„Du, Sandra, das interessiert mich jetzt wirklich nicht.“, spuckte ich in den Hörer und verpasste mir innerlich schon die ersten beiden Ohrfeigen.
„Naja, ich mein ja nur… vielleicht leidest ja nicht blos du…“, kam es beleidigt zurück. Sie hatte also noch nicht aufgegeben.
„Sandra: ER LEIDET NICHT, okay? Hör auf ihn zu einem bemitleidenswerten Männchen zu machen! Das ist er nicht! Er ist ein Arsch, verstanden? Und Ärsche leiden nicht.“ Das kam härter raus, als ich beabsichtigt hatte und die Quittung kam prompt:
„Das muss dir ja ganz schön zu schaffen machen, wenn du da gleich so emotional wirst…“
„Emotional? Hey, Sandra, auf so was hab ich jetzt echt keinen Bock. Ich leg jetzt auf. Tschüss.“
Ich hatte noch nie einfach so aufgelegt. Es fühlte sich falsch an. Vielleicht hatte er ihr ja doch noch mehr erzählt, als ich sie hatte sagen lassen. Vielleicht hatte sie ja einen echten Grund anzunehmen, dass es ihm nicht gut ging. Vielleicht vermisste er mich wirklich. Vielleicht hatte er es Sandra gestanden, in der Hoffnung, sie würde es mir erzählen. Vielleicht wartete er jetzt nur darauf, dass ich ihn Anrief, ihm verzieh, ihn wieder in meine Arme schloss und die vergangenen drei Wochen auslöschte.
Ich griff zum Hörer und ließ ihn wieder sinken. Es gab niemanden, den ich hätte anrufen können. Ich war feig.

 

from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: auf Kohlen
Fr 10 Apr 2005 15:12

was würdest du tun?
ich halt das jetzt langsam nicht mehr aus. ich hätte jetzt gerne eine erklärung.
ich meine, er kann mich doch jetzt nicht einfach so zurück lassen. das ist doch kein grund: „es hat nicht funktioniert“ ist das echt schon alles? das reicht mir aber nicht. ich würd gern hinfahren, ihn aus seinem scheißfoutonbett ziehen und ihn so lange schütteln, bis er’s ausspuckt.
ich hab ihn seither nicht gesehen. es ist, als würde er sich vor mir verstecken. er ist nicht in der wunderbar und nicht im park. tobias und die andern idioten sehe ich dauernd. aber er ist nie dabei. NIEHIEHIE!
scheiße! und ich komm mir vor wie eine blöde kuh, die immer wartet und wartet.
ich fahr hin! heute abend auf alle fälle. und versuch nicht, mich davon abzubringen!
sag paul schöne grüße,
klara

 

Natürlich fuhr ich nicht.

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