Januar 2009
Er würde sie verlieren. Da war er sich ganz sicher. Seit dem Tag, an dem sie die Einladungskarten gefunden hatte. „Da müssen wir hin!“, hatte sie verkündet und ihre Augen hatten gestrahlt, wie die von Nina am letzten Weihnachten. Vor lauter Begeisterung schien Klara völlig entgangen zu sein, dass er die Karten eigentlich vor ihr versteckt hatte. Kein vorwurfsvolles Wort war über ihre Lippen gekommen. Stattdessen hatte sie gelacht, zum Telefon gegriffen und zwei Personen zur Theaterpremiere angemeldet.
„Die Bluthochzeit“
von Federico Garcia Lorca
Ich hab die Musik gemacht!
Würde mich freuen, dich zu sehen. Kannst selbstverständlich auch jemanden mitbringen!
Gruß, Mike
hatte Mike quer über die Einladung gekritzelt.
Jetzt saßen sie im Auto auf dem Weg nach Regensburg. Ihm war übel seit sie die Stadtgrenzen Münchens hinter sich gelassen hatten. Klara rutschte vor Aufregung unruhig auf ihrem Autositz hin und her. Seit mehr als drei Jahren war sie nicht mehr in Regensburg gewesen. Er hatte etwa ein halbes Jahr später dieser traumhaften Stadt den Rücken gekehrt. Es war einfach zuviel passiert.
Dass sie sich dann in München wiedergefunden hatten, war ein unglaublicher Zufall gewesen. Schön, wie immer, mit ihren langen, fast schwarzen Haaren, hatte sie an der Würstchenbude auf dem Tollwood-Festival vor ihm gestanden. Sein Herz hatte einen Schlag ausgesetzt und er fand erst den Mut, sie anzusprechen, als sie sich – Semmel und Wechselgeld in der Hand – umdrehte, um sich an ihm vorbeizudrängeln. Fassungslos und unbeholfen waren die ersten Minuten gewesen. Schließlich hatte sie sich aber doch seine Nummer geben lassen.
Er musste lächeln, als er daran dachte, wie zögerlich sie ihn in ihr Leben gelassen hatte. Zwei lange Wochen hatte er auf ihre erste SMS warten müssen. Sie war misstrauisch gewesen nach alldem was vorgefallen war. Und sie wollte Nina schützen.
Fast eineinhalb Jahre waren sie jetzt schon zusammen und er war drauf und dran sie zu fragen, ob sie nicht zu ihm ziehen wollte. Sie musste ohnehin raus aus dieser WG mit Verena und Paul. Klar, es waren ihre besten Freunde, doch die würden bald heiraten und ein Baby war auch schon unterwegs. Klara und Nina würden nur zu gerne zu ihm ziehen – da war er sich sicher gewesen. Gewesen. Jetzt sah die Sache ganz anders aus. Jetzt hatte er den Eindruck, ihre alte Heimat würde Klara von ihm wegziehen und es schien ihm schwer sie zu halten. Regensburg war die Stadt in der sie nicht zusammen sein konnten. Und sie fuhren auf direktem Weg dorthin.
Da saß sie nun neben ihm im Auto und strich wieder und wieder ihr Kleid glatt. Warum freute sie sich nur so? War es das Theater? Das freie Wochenende? Die so lange vermisste Stadt? Klar, auch ihm hatte Regensburg gefehlt, mit seinen mittelalterlichen Gassen und seinem blühenden Nachtleben. Aber nichts in ihm jubilierte, wenn er an das kommende Wochenende dachte. Freute sie sich wirklich nur auf ein paar schöne Tage? Oder auf etwas anderes? Auf JEMANDEN anderes? Schnell kämpfte er die aufkeimende Eifersucht nieder. Es war ganz und gar unwahrscheinlich, dass ER kommen würde. Nein, viel mehr als das. Es war unmöglich. ER war nicht einmal im Land. Das hatte Mike ihm versprochen.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie ihm einen Blick zuwarf. Er war voller Zuneigung und Wärme. Mit ihrer schmalen Hand strich sie ihm beruhigend über den Oberschenkel als hätte sie in seinem Gesicht gelesen, welche Sorgen ihn plagten.
Und wirklich, er begann sich ein wenig zu entspannen. Es war nur ein Wochenende. Nichts würde passieren. Was konnte auch schon groß passieren?
Irgendwie wirkte er heute so steif und angestrengt. Schon auf der Herfahrt hatte er kaum ein Wort gesprochen. Dabei war es doch sein Freund, dem zuliebe wir heute hier waren. Als wir das Theaterfoyer betraten griff ich nach seiner Hand und drückte sie. Um ihn zu beruhigen und auch weil ich mich vor Aufregung kaum noch still halten konnte. Denn obwohl er alles andere als gut gelaunt war – am liebsten wäre ich durch die Halle gesprungen, hätte lauthals gejubelt und gelacht, hätte ihn umarmt und mit ihm getanzt, hätte geschrieen: „Ich bin wieder hier! Lass uns nie mehr wieder von hier weg gehen!“ Bereits als meine Schuhe das rutschige Kopfsteinpflaster am Bismarckplatz betreten hatten, hatte ich gewusst, dass ich hierher gehörte. Gleich hier um die Ecke war meine alte Wohnung, unten an der Donau lag meine Stammkneipe von damals und nur einige Straßen weiter war die Privatschule, an der ich mein erstes richtiges Jahr als Lehrerin verbracht hatte. Es war mein Regensburg.
Klar gab es da auch einen bitteren Beigeschmack. Einen Beigeschmack, der, wenn man nicht gut genug aufpasste, schnell alles andere erdrücken konnte.
Aber heute gab es keinen Platz für bitteren Beigeschmack. ER war nicht da, war nicht einmal im Land. Das hatte Mike mir versichert. Ich würde ihn nicht treffen. Ich konnte dieses Wochenende voll genießen. Heute dieses Theater, morgen Frühstück mit Karin und Cordula. Fast so wie früher.
Eine ganze Weile hatte ich gedacht, dass mich in dieser Stadt nichts Gutes mehr erwarten würde. Aber dann nach einem langen Gespräch mit Verena und viel viel Rotwein, war mir klar geworden, was für ein Blödsinn das war. Und dann kam prompt diese Einladung. Das war wie eine Bestätigung. Ich hatte lange genug Abstand gehalten. Es war an der Zeit sich wieder voll rein zu stürzen.
„Hey, da seid ihr ja endlich!“ Mit glühendem Gesicht schob sich Mike durch die Schar der Premierengäste auf uns zu und umarmte uns. „Ihr habt gerade die Rede meines Chefs verpasst – naja, ist auch irgendwie besser so. Aber es hat schon gegongt. Geht doch schon mal rein, wir reden später, ja?“ Und bevor er endgültig wieder in der Menge verschwand: „Echt, ich freu mich so, dass ihr hier seid!“
Seine Hände zitterten, sein Magen rebellierte und er übergab sich gleich noch einmal. Es hatte bereits gegongt. Er sollte draußen im Foyer sein. Stattdessen hing er hier über der Kloschüssel und kotzte. Er atmete tief durch, wischte sich den Mund ab und trat aus der Kabine. Mehrere Augenpaare musterten ihn aufmerksam. Er ignorierte sie und ging zum Waschbecken, um sich den Mund auszuspülen. Noch immer zitterte er. „Was hast du denn!“, schalt er sich stumm. „Du hast es selbst so gewollt und jetzt erträgst du es nicht!“
Ja, er hatte es selbst so gewollt. Er hatte es eingefädelt. Mikes Einladung war die Gelegenheit gewesen. Mehr als drei Jahre hatte er Klara nicht gesehen, hatte bis vor Kurzem nicht einmal gewusst, dass sie nach München gezogen war. Und mit wem sie zusammen war. Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen erneut schmerzhaft zusammen und er musste sich beherrschen, um nicht wieder in die Kabine zu rennen.
Bestimmt waren sie längst angekommen. Viel zu oft hatte er sich schon ausgemalt, wie Klara reagieren würde, wenn sie ihn sah. Er hoffte… ja, was hoffte er eigentlich? Dass sie ihm vergab?
Er sah seinem Spiegelbild prüfend in die Augen. „Du siehst scheiße aus.“, bestätigte es. Dann gongte es zum zweiten Mal und endlich gab er sich einen Ruck.
Im Foyer war kaum noch jemand. Er fingerte nach der Platzkarte in seiner Brusttasche und stieg die Treppen hinauf zu seinem Platz im ersten Rang.
Klara saß schräg vor ihm, unten im Parkett. Es hatte keine fünf Sekunden gedauert, da hatte er sie schon im Blick. Sein Herz machte einen Satz, so dass er sich vor Schreck in die Armlehnen seines Stuhls krallte.
Sie sah so aus wie immer und doch ganz anders. Die Zeit hatte sein Bild von ihr trüb werden lassen. Doch jetzt, da unten, in ihrem grünen Kleid und den dunklen Haaren, die sich glatt und glänzend über ihre Schulterblätter legten, war der graue Schleier verschwunden. Bilder schoben sich vor sein inneres Auge. Wie sie ihren Kopf neigte und seine Lippen die samtene Haut ihres Nackens küsste, wie sie seine Hände packte und an ihre Brüste drückte. Schnell schloss er die Augen, versuchte sich zu sammeln. Er wollte an Tanja denken. Tanja, mit ihrem strahlenden Lächeln. Tanja, die ihn überall hin begleiten wollte. Tanja, die er nicht heiraten konnte, ehe das hier nicht geklärt war.
Das Licht wurde schwächer, die Aufführung begann. Doch er sah nichts als dieses kleine Stück ihres Nackens, dass ihre Haare für ihn freigaben.
„Hinaus“, bestimmte die hässliche, dicke Frau auf der Bühne. „Auf allen Wegen. Wieder ist die Stunde des Blutes gekommen. Zwei Parteien. Du mit den Deinen und ich mit den Meinen. Tretet zurück! Tretet zurück!“
Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich dem Bann des Gesehenen entziehen konnte. Sie waren unvernünftig – die Braut und ihr Geliebter. Sie waren fortgerannt, aus Liebe. Sie rannten in ihren Tod. Ich schüttelte den Kopf. Unvernünftig. Unrealistisch.
„Ich hol uns schnell was zu trinken“, sagte er dicht an meinem Ohr, während wir von den Besucherströmen ins Foyer gespült wurden. „Und wenn du Mike siehst, frag ihn doch bitte, wo nachher die Party steigt, ja?“
„Du wirst ihn zuerst sehen. So wie ich ihn kenne, ist er bestimmt an der Bar.“, antwortete ich und versuchte, einen Platz zu finden, der nicht so stark frequentiert war, wie der Weg vom Theatersaal Richtung Prosecco. „Ich warte da drüben auf dich.“
Er nickte und verschwand in der Menge. Wahrscheinlich würde es die halbe Pause dauern, bis er etwas zu Trinken organisiert hatte. Und wahrscheinlich, so dachte ich, würde er so viele Bekannte treffen, dass der Sekt schal geworden war, bis ich ihn in den Händen hielt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee hier abseits zu stehen. Eigentlich wollte ich bei ihm sein, wenn er alte Bekannte traf und Sekt trinken, der noch sprudelte. Kurzentschlossen bahnte ich mir einen Weg durch die Menge, Richtung Bar.
Da sah ich ihn. An die geöffnete Flügeltür des Foyers gelehnt stand er da und starrte mich an. Seine blauen Augen stachen in meine. Der Schock nahm mir den Atem, kappte die Geräusche um mich herum, jagte mir Hitze durch den Körper. Er und ich. Ich und er. Allein auf dieser Welt. Wie eine Ertrinkende schnappte ich nach Luft. „Mike, du verdammter Lügner!“, zischte ich noch, drehte mich um und rannte.