Januar 2009
Klara war schon beinahe in der Silbernen Fischgasse, als Matthias sie einholte. Warum sie gerade in diese Richtung gelaufen war – vermutlich aus alter Gewohnheit. Sie war nicht schnell in ihren Schuhen auf dem rutschigen Kopfsteinpflaster, aber als sie bemerkt hatte, dass er ihr folgte, lief sie, als ginge es um ihr Leben. Er bekam sie zu fassen, stoppte sie und drehte sie zu sich um. Und wie immer, wenn er ihr zu nahe kam, verlor er den Kopf. Ihre Augen, ihr Atem, ihre Lippen. Er presste sie an sich und küsste sie gierig. Ihre Wärme breitete sich in ihm aus, schoss durch seine Adern wie eine Droge. Er brauchte mehr. Seine Hand schob sich ihren Rücken hinauf und umfasste ihren Nacken. Da erst registrierte er, dass sie sich wehrte. Sie entzog ihm ihre Lippen. Pulsierend und hungrig ließ sie die seinen zurück.
„Was willst du?“, flüsterte sie außer Atem.
„Jetzt? Im Moment?“ Das war doch ziemlich offensichtlich. Er neigte seinen Kopf um sie erneut zu küssen, da stieß sie ihn heftig von sich.
Überrascht taumelte Matthias zurück. Jetzt erst sah er sie wirklich. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, Panik leuchtete in ihrem Gesicht, ihre Hände zitterten – alles an ihr zitterte. Sie hatte Angst vor ihm. Plötzlich schämte er sich, sie so überfallen zu haben. „Entschuldige.“, sagt er leise.
„Was willst du hier?“, fragte sie noch einmal. Diesmal lauter, bestimmter. Sie taxierte ihn, als ob sie in ihn hineinsehen wollte. Als ob sie erkennen wollte, welche Gefahr von ihm ausging.
„Ich musste dich sehen.“, gab er zu. Er hatte sich diese Szene so oft vorgestellt. Jetzt war sie ganz anders und doch kamen seine Antworten wie automatisch.
„Das hast du ja jetzt.“ Sie wandte sich zum Gehen. Nein! Nein! Nein! Schnell war er bei ihr, hielt sie am Arm zurück. Mit einem erschrockenen Aufschrei riss sie sich los. Als hätte er sie verbrannt. Er schämte sich wieder, konnte sie aber so nicht gehen lassen.
„Ich muss mit dir reden.“ Seine Stimme war ein Flehen. Sie musste es doch merken. Sie musste doch spüren, wie wichtig das für ihn war.
„Ich wüsste nicht worüber.“, fauchte sie. Doch es klang wenig überzeugend. Sie wusste es genau. Und er sprach es aus. „Über meine Tochter.“ Wie seltsam dieses Wort aus seinem Mund klang. Er hatte es nie zuvor ausgesprochen, doch es war immer in seinem Kopf gewesen. Seit dem 4. Mai vor nicht ganz zwei Jahren. Eine unbekannte Nummer hatte ihm eine SMS geschickt.
Du hast eine Tochter. Sie ist gesund und wunderschön. Klara geht es gut.
Vergeblich hatte er die Nummer zurückgerufen. Wieder und wieder hatte er es versucht, doch das fremde Handy blieb ausgeschaltet. Genau wie alle seine Spuren zu Klara, war auch diese eine Sackgasse gewesen. Schließlich hatte er aufgegeben. Sie waren weg. Klara und seine Tochter.
„Nina.“, flüsterte sie und ihre Stimme wurde weich.
Einer der vielen harten Knoten rings um sein Herz löste sich. Ein kleines Stück warmen Glücks durchströmte ihn. Nina.
Doch Klara hatte sich bereits wieder unter Kontrolle. Misstrauisch beäugte sie ihn. „Du willst reden. Über Nina. Warum? Warum jetzt?“
Er öffnete die Lippen, ohne den Inhalt seiner Antwort zu kennen. Doch noch bevor er einen Ton sagen konnte, fuhr sie ihm warnend über den Mund. „Und lüg mich ja nicht an!“
Fieberhaft arbeitete sein Verstand. Er konnte nicht riskieren ihr Märchen aufzutischen. Jetzt, wo sie doch zumindest nicht mehr vor ihm davonlief. Also holte er tief Luft. „Es gibt da eine Frau mit der ich zusammen bin.“ Sie runzelte die Stirn und er fühlte sich bestätigt – er hätte besser gelogen. Aber er war schon mittendrin. „Sie spricht von Hochzeit und Familie.“
„Friede, Freude, Eierkuchen.“, nuschelte Klara und ein spöttisches Lächeln blitzte auf ihren Lippen. Er versuchte es nicht zu sehen.
„Und ich… ich habe das Gefühl… als könnte ich… als könnte ich ihr nicht das geben, was sie will, solange das hier nicht geklärt ist.“ Abwartend schaute er sie an. Sie schwieg. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Ihre Augen waren dunkel. Dann schnitt ihre Stimme kalt durch die Januarnacht. „Es geht dir also darum abzuschließen? Deswegen rennst du mir hinterher? Damit du frei sein kannst? Bitte. Sei frei. Wenn das alles ist.“
Nein, das war es nicht. Wieder wandte sie sich um, wollte gehen. Und wieder hielt er sie zurück. Diesmal ließ er nicht zu, dass sie sich losriss. Auch wenn es bedeutete, dass er ihr noch einmal so nahe kommen musste. Sein Herz raste wild und es war die pure Angst, die ihn trieb. „Nein! Bitte! Ich weiß es doch selbst nicht! Ich bin hierher gekommen mit einer Absicht. Aber seit ich hier bin, seit ich dich gesehen habe weiß ich, dass diese Absicht eine Lüge ist! Ich will mehr. Ich will nicht abschließen. Ich will sie sehen. Bitte.“
Klara atmete geräuschvoll ein. Dann sah sie ihn an und er wusste, dass sie nicht nein sagen würde. Ihre bisher so harten Gesichtszüge waren weicher, ihre Lippen waren nicht mehr so schmal. Und doch zitterte sie noch. Innerlich verpasste er sich eine Ohrfeige. Warum hatte er es nicht schon früher bemerkt? Schnell zog er seine Jacke aus und legte sie um ihre Schultern. Eiseskälte traf seinen Rücken doch es war ihm egal. Denn endlich schenkte sie ihm ein Lächeln. „Danke. Saukalt, echt.“ Für Sekunden schauten sie sich in die Augen und er meinte in ihrem Blick etwas zu sehen. Etwas Warmes, Vertrautes. Doch dann blinzelte sie, schüttelte den Kopf und kramte in ihrer Handtasche. „Ich habe ein Foto. Das war letztes Weihnachten.“ Sie zog das Bild aus ihrer Geldbörse und gab es ihm.
Im Schein einer Straßenlaterne strahlte ihm seine Tochter entgegen. Es waren seine Augen aber Klaras Lächeln. Stolz stand das kleine Mädchen neben einem Puppenwagen. Ihre dunklen Haare baumelten in geflochtenen Zöpfen fast bis zu ihrem roten Kleid. Mit einem Mal verschwamm das Bild. Tränen füllten seine Augen. Er schloss sie schnell, um nicht zu weinen. „Oh mein Gott, sie ist so schön.“, stammelte er.
„Ich weiß.“, sagte sie nur.
Vor Wut schäumend stürmte Tobias ins Freie. Mike hatte ihn belogen. Matthias war hier. Und jetzt war er mit Klara verschwunden. Er hatte das mittlerweile menschenleere Foyer abgesucht, die Bar und auch die Toiletten. Sie waren nicht mehr im Haus. Sie waren irgendwo hier draußen und taten Weißgottwas! Eine heiße Hand umklammerte sein Herz.
„Klara!“, schrie er. Er wollte es sich nicht vorstellen. Er wollte nicht wissen was sie gerade machten. Doch! Er lief los, ohne spezielle Richtung. Geradeaus über den Platz.
„Tobi, warte!“, rief ihm Mike noch nach. „Lass sie doch ihre Sachen klären.“
Tobi drehte sich nicht um. Er dachte nicht daran den beiden Zeit zu geben irgendetwas zu tun. Nicht wenn er es verhindern konnte.
Ein anderer, logischer Teil von ihm rief ihn zur Vernunft. „Klara ist nicht so. Vertrau ihr. Sie wird das Richtige tun!“
Doch die Hand um sein Herz löste sich nicht. Verzweiflung stieg in ihm hoch. Matthias kam, er sah sie, er bekam sie. Immer. Es war doch immer so gewesen. Und was blieb ihm übrig? Die Scherben aufsammeln, Wunden heilen, nett sein, wenn er sie wieder ausgespuckt hatte. Tobias war sich so sicher gewesen, dass sie ihn liebte, er hatte sich so angestrengt für sie. Es war so verdammt ungerecht!
Warum hatte sie Matthias eben im Theater nicht einfach zum Teufel geschickt? Er würde ihn zum Teufel schicken, wenn er ihn sah! Oh, und wie er das würde! Er würde schlagen und schreien, bis keinerlei Kraft mehr in ihm war.
„Klara!“ Sein Ruf hallte von den Mauern der Gebäude wider. Die wenigen Menschen, die den Platz passierten, wandten die Köpfe. Es war ihm egal.
Mit einem Mal sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung in einer der Gassen, die vom Bismarckplatz wegführten. Er sah genauer hin. Da waren sie. Matthias im Hemd unter einer Straßenlaterne. Klara dicht bei ihm – sie trug seine Jacke um die Schultern.
Die Hand um sein Herz packte noch fester zu, glühte, versengte ihn. Er ballte seine Hände zu Fäusten und steuerte auf die Beiden zu, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von ihnen zu wenden.
„Du kannst es behalten.“, bot ich ihm an und trat einen Schritt näher. Seit ich Matthias im Foyer des Theaters gesehen hatte, war ich von einem Gefühl ins andere gefallen. In Wut, Angst und sogar Panik, als er mir gefolgt war, dann in diese schmerzvolle Sehnsucht, als er seine Lippen auf meine gepresst hatte. Oh Gott, es war beinahe wie früher gewesen. Und wie hatte ich das vermisst. Doch ich war nicht weich geworden, hatte ihn von mir gestoßen. Er hatte nicht das Recht so etwas zu tun. Und er hatte eine Freundin – natürlich hatte er die. Dieser leichte Anflug von Eifersucht hatte den Panzer in mir Risse bekommen lassen. Er war schließlich ganz aufgebrochen – durch diesen kleinen Funken Hoffnung. Und jetzt? Jetzt sah ich ihm ins Gesicht, sah, wie das Bild seiner Tochter ihn glücklich machte. Und ein bisschen dieses Glücks sprang auch auf mich über.
„Weiß sie von mir?“, fragte er vorsichtig.
Ich lächelte. „Sie ist noch nicht einmal zwei Jahre alt. Sie hält ihre Stofftiere für lebendige Wesen – nein, sie weiß nicht von dir. Aber sie ist ganz verliebt in…“ ich stockte. Das ging zu weit.
„In Tobias.“, vervollständigte er bitter. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Ich öffnete die Lippen, um mich zu entschuldigen, da hatte er das Thema auch schon weggewischt. Er packte meine Schulter, fordernd. Ich spürte dieses verfluchte Prickeln meinen Arm durchströmen und atmete tief ein, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
„Bitte.“, sagte er wieder. „Bitte, ich will eine Rolle in ihrem Leben spielen. Ich will, dass sie mich kennt.“
Oh, wie hatte ich mich vor diesem Satz gefürchtet. Ich wollte ja, dass Nina ihren Vater kennenlernte. Doch das bedeutete auch, dass er wieder in meinem Leben sein würde. Und das fürchtete ich mehr als alles andere. Was sollte ich nur tun?
„Wieso?“, brachte ich noch heraus.
„Weil ich es will und weil ich es jetzt kann!“ Aus seinen Worten sprach eine Ehrlichkeit, die mich überraschte. Scheinbar wollte er diese Verantwortung haben – und vielleicht schaffte er es wirklich. Ich blickte ihm tief in die Augen. Ich wollte in sein Herz sehen, in seinen Verstand. Wollte eine Gewissheit, dass das hier nicht nur eine Laune war. Für Nina brauchte ich Gewissheit.
„Klara!“ Noch ehe ich mich umdrehen konnte, um zu sehen, wer nach mir rief, war Tobias auch schon bei uns. Er packte Matthias und schleuderte ihn gegen eine Mauer. Das Foto fiel zu Boden. Erschrocken schrie ich auf.
„Was glaubst du, was du hier tust, du verdammtes Arschloch! Nimm deine Finger von ihr oder ich schlag dir deine arrogante Fresse ein!“ Tobias war rasend. Ich packte ihn am Arm, versuchte ihn aufzuhalten. Er warf mir einen Blick zu, als würde ich stören und schüttelte mich ab. Er wollte sich schlagen – das verriet nicht nur das Feuer in seinen Augen. Sei ganzer Körper war zum Bersten angespannt. Die Muskeln zuckten. „Tobi – nein!“, flehte ich und versuchte wieder ihn zu fassen.
„Halt dich raus aus unseren Angelegenheiten!“, zischte Matthias ihm zu. Er hatte sich nach Tobias’ Schlag kurz den Kopf gehalten, doch inzwischen hatte er sich aufgerappelt und ebenfalls Angriffshaltung eingenommen. Das war idiotisch! Ich musste das hier beenden, bevor sie sich an die Gurgel gehen würden! Wütend trat ich zwischen die beiden Kampfhähne, stemmte mich gegen Tobi und versuchte ihn zurück zu drängen. „Hört auf! Sofort! Aufhören!“, schrie ich, doch Tobias schnaubte nur genervt.
„Klara, geh zur Seite! Lass ihn sich doch prügeln, wenn er will!“, hörte ich Matthias hinter mir. Auch er wollte sich schlagen – es war unfassbar! Mit aller Kraft drückte ich meine Schultern gegen Tobias’ Brustkorb.
„Tobi! Du Idiot! Hör sofort auf! Was denkst du eigentlich von mir?“, schrie ich empört, als ich endlich begriff, was Tobi gesehen haben musste, als er uns entdeckt hatte: Mich in Matthias’ Jacke, seine Hand an meinem Arm.
Endlich sah Tobias mich an. Für eine Sekunde lag Mistrauen in seinem Blick.
„Das glaubst du doch nicht wirklich.“, tadelte ich ihn.
Tobias blinzelte, er atmete auf und der Schleier in seinem Blick verschwand. Endlich drang ich zu ihm durch.
„Wir sollten jetzt gehen.“ Tobias entspannte sich etwas, warf Matthias jedoch noch einen giftigen Blick zu, während ich ihn langsam aber sicher von ihm weg bugsierte. „Komm mir nie wieder in die Quere.“
Matthias antwortete nicht. Am Rande meines Blickfelds glaubte ich zu erkennen, wie er sich bückte, um das Foto aufzuheben.
Tobias drehte sich um und legte den Arm besitzergreifend um meine Schultern. Wir waren erst ein paar Schritte gegangen, als ich abrupt stehen blieb.
„Oje, die Jacke.“, nuschelte ich und rannte zurück zu Matthias, der immer noch unter der Straßenlaterne stand. Seine Augen leuchteten auf, als sie in meine Blickten. Ich gab ihm seine Jacke, da streiften seine Finger meinen Handrücken. Die Berührung jagte mir einen Schauer durch den Körper. „Ruf mich an, ja?“, flüsterte er. „Meine Handynummer ist noch dieselbe. Sag, dass du mich anrufst!“ Plötzlich klammerte sich seine Hand um meine. Mit verschlug es den Atem. Mein Herz klopfte in einem irren Stakkato gegen meine Brust.
„Versprich es!“
Ich nickte, sah ihm in die sehnsuchtsvollen blauen Augen, nickte noch einmal und lief zu Tobias.
„Ist die Sache jetzt endlich ausgestanden?“, knurrte der, als ich wieder neben ihm war.
„Ja.“, log ich. Noch immer schlug mein Herz viel zu schnell. Noch immer meinte ich, Matthias’ Hand zu spüren.
Es würde einen anderen Zeitpunkt brauchen als diesen, Tobias alles zu erklären.
Ich nahm seinen Arm, schmiegte mich an ihn und wir gingen davon. Matthias’ Blick immer in meinem Nacken.