Wieso war es plötzlich so still? Ich riss mich aus meinen Tagträumen und hob den Kopf. Die Klasse starrte mich erwartungsvoll an. Waren wir schon durch mit dem Kapitel? Kimberly konnte doch unmöglich so schnell gelesen haben. Ich blickte auf meine Ausgabe von Horvaths „Jugend ohne Gott“ und blätterte schnell hinterher. Ich versuchte mich zu erinnern, um was es in diesem Kapitel ging, doch meine Gedanken waren gerade ganz woanders gewesen und wollten sich nicht mit Neuntklasslektüre beschäftigen. „Äh, Sophia, dann lies doch du mal weiter.“, beschloss ich und blickte auf meine Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Pause. Gott sei Dank. Sophia würde bis dahin nicht mit dem nächsten Kapitel durch sein.Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, ließ ein Ohr bei der Klasse und versank wieder in meine Gedankenwelt. Matthias drängte sich vor, war seit gestern immer präsent in meinem Kopf. Seine Lippen, seine Küsse ganz besonders. Ich schaffte es einfach nicht komplett in die Gegenwart. Diese Begegnung hielt mich zurück und ich gehorchte willig. Die Realität war ein Nebel. Wir hatten es eigentlich beide gewusst, doch er hatte es ausgesprochen: „Wir können nicht zusammen sein. Auf diese Weise sicher – aber nicht mehr.“Ich hatte genickt, ihn auf die Wange geküsst und war in mein Oberteil geschlüpft. Matthias hatte seine Hose zugeknöpft. „Bier?“Einträchtig nebeneinander an die Arbeitsplatte in der Küche gelehnt hatten wir schweigend unser Bier getrunken. Dann war ich nach Hause gegangen. Geschwebt. Das schlechte Gefühl war vorbei. Der Schmerz und die Trauer hatten Platz gemacht für Aufregung, Lust und diesen kleinen Funken Hoffnung. Sicher, er hatte gesagt, wir könnten nicht zusammen sein. Doch das, was sein konnte, funktionierte prächtig. Vielleicht brauchte ich nur etwas Geduld, dann würde auch die Liebe wieder funktionieren. Seine Liebe zu mir. Denn meine hatte nie aufgehört. Sie war stärker gewesen, als all diese guten Vorsätze, meine halbherzige Trauerarbeit und diese aufgesetzte Coolness.Wir hatten nichts ausgemacht, uns nicht verabredet und trotzdem war ich mir sicher, es würde wieder passieren. Unsere Anziehung war stark. Wir passten aufeinander.Die Pausenglocke schrillte und ich fand mich immer noch in diesem Klassenzimmer.„Das Kapitel fertig und die folgenden zwei bis Donnerstag lesen bitte.“, befahl ich in meinem besten Lehrerinnentonfall. Ich stand auf, packte das Buch in meine Tasche, nickte und war schon aus der Tür. Jetzt nur noch diese Doppelstunde Volleyball und dann nichts wie nach Hause.Ich wusste schon genau, was dieser Nachmittag für mich bereithielt: Ein Bett voller Tagträume.
from: klara.m78@yahoo.de
subj: ich weiß
Di 14 Apr 2005 19:12
ich wollte es dir eigentlich nicht schreiben. weil du dich aufregen wirst. weil du mit mir schimpfen wirst. und ich möchte nicht geschimpft werden… ich möchte, dass es mir gut geht. und es geht mir gut. das erste mal sein langem. ich hab mit matthias geschlafen.NICHT SCHMIPFEN!!!! setz dich wieder hin, bleib ganz ruhig.ich wollte gestern meine sachen bei ihm abholen und da ist es einfach passiert. er wollte mich, ich wollte ihn. so einfach. es war toll.nein, wir sind nicht wieder zusammen. es ist nur der sex.ich weiß, was du denkst: er nutzt sie aus und sie ist zu blöd das zu kapieren.das ist nicht so. ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es so aussehen könnte, aber es ist nicht so. wir haben uns darauf geeinigt – mehr oder weniger. keine liebe – das ist der deal. und es ist ein guter deal.das erste mal seit WOCHEN geht es mir gut. ich fühle mich nicht beschissen, ich fühle mich sexy. und wenn das kein grund ist…ja, ich weiß, du denkst, das böse erwachen kommt noch. vielleicht ist das auch so. aber bis dahin, will ich mich nicht mehr beschissen fühlen.und auch du wirst daran nichts ändern – tut mir leid.das ist der vorteil (aber auch wirklich der einizige) deiner reise: du bist zu weit weg, um mich von irgendetwas abzubringen!
liebe frischgefickte grüße
klara
Es passierte wieder. Bereits am Freitagabend stand er überraschend bei mir vor der Tür. Eine Flasche Rotwein in der Hand. Ich war in Unterwäsche und hatte nasse Haare – mitten in der Vorbereitung auf einen Abend in der Stadt. Doch ich beschloss, dass die Stadt warten konnte und bat ihn herein.Wir ließen uns treiben. Wir wussten ja, wo es enden würde. Also hatten wir keine Eile. Wir tranken die ersten Gläser und redeten. Nichts Wichtiges. Über seinen Job in diesem renommierten Architekturbüro, über gemeinsame Bekannte, über potentielle Muttertagsgeschenke, über viel. Wir hatten Spaß. Wir sparten uns schwere Themen. Es war nicht die Zeit, unsere alte Beziehung zu zerpflücken – jetzt wo die neue doch gerade erst begonnen hatte. Natürlich hatte ich noch Fragen. Dieses WIESO war immer noch unbeantwortet. Doch ich wollte die Stimmung nicht zerstören. Ich wollte an seinen Lippen hängen, seine Augen glitzern sehen und mich freuen auf das, was kommen würde.Als es dann kam, hätte der Unterschied zu diesem gierigen Akt am Montag kaum größer sein können. Wir nahmen uns Zeit – ließen uns einfach weiter treiben und genossen.Mit einem zufriedenen Lächeln zog er sich an, schlüpfte in Schuhe und Jacke und verpasste mir einen Abschiedskuss.„Wolltest du heute nicht noch irgendwo hin?“, fragte er und spielte mit meinen schon beinahe trocknen Haaren.„In die Wunderbar und du?“„Auch.“Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Ich wusste, was er sagen wollte.„Du hör mal…“, setzte er an. „Ist schon okay. Das bleibt unter uns.“, vervollständigte ich schnell. Nicht, ohne einen bitteren Brocken der Enttäuschung zu schlucken. Das war der Deal. Anders ging es nicht.„Gut, dass du genauso denkst.“, seufzte er erleichtert und küsste mich auf die Wange.„Bis später.“ Ich schickte ihm ein Lächeln hinterher und schloss die Tür.Eine halbe Stunde später betrat ich die Wunderbar. Es war voll und ich brauchte eine Weile, bis ich den Überblick hatte. An der Bar standen Cordula, Karin und Frank. In Sichtweite an einem Tisch entdeckte ich Matthias. Er war ins Gespräch vertieft mit Stefan und Tobias. Als ich mich in einiger Entfernung vorbeidrängte, sah er auf. Für einen ganz kurzen Moment kreuzten sich unsere Blicke. Als er registrierte, dass ich nicht in seine Richtung unterwegs war, konnte ich für einen Moment ein Lächeln auf seinen Lippen entdecken. Dann wandte sich sofort wieder seinen beiden Begleitern zu.„Hey, ihr drei! Was steht heute noch an?“, begrüßte ich meine Freunde an der Bar. Ich war locker, fühlte mich frei und genoss Matthias’ Blicke in meinem Rücken.
Von mir aus konnte es immer so weiter gehen. Ich war in einem Zustand ständigen Prickelns. Gut, meine Konzentration in der Arbeit ließ zu wünschen übrig und auch sonst war nicht viel los mit mir. Stattdessen lebte ich für diese Stunden mit Matthias. Ich überließ ihm die Entscheidung, wann wir uns sehen sollten – wann er mich sehen wollte. Und in den ersten Wochen kam ich kaum dazu, ihn zu vermissen. Wenn wir uns nicht trafen, füllte es meine Zeit, mich für ihn schön zu halten, an ihn zu denken und mir Ausreden einfallen zu lassen. Denn des Öfteren lud er mich ein oder stand vor der Tür, wenn ich eigentlich andere Dinge geplant hatte. Cordula merkte, dass etwas im Busch war und fragte mich, als ich sie wieder einmal vertröstete: „Kann es sein, dass du verliebt bist?“ „Nein.“, antwortete ich schnell und war froh, dass ich sie nur am Telefon hatte und ihr nicht ins Gesicht sehen musste. Sie hätte mich sofort enttarnt. Und sie hätte vor allem Matthias gesehen, wie er seine Hand langsam unter meinen Rock schob. „Es ist… die Arbeit und dieses Theaterstück… das nimmt mich doch mehr in Beschlag, als ich dachte. Ich muss echt abends auch noch was tun.“, log ich und versuchte nicht zu schnell zu atmen. „Das mit den Ausreden hast du echt drauf“, lobte Matthias später, als er nackt und entspannt neben mir im Bett lag. „Danke.“ Ich setzte mich auf. „Was lügst du denn so deinen Freunden vor?“, wollte ich wissen und schwang meine Beine aus dem Bett. „Ich muss nicht lügen.“, sagte er trocken und mein Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Er erzählte ihnen von mir. Er brach unser kleines Geheimnis. Ich war enttäuscht und auch ein wenig wütend. Mich drängte er dazu, meinen Freunden Märchen aufzutischen und er? Was für mich galt, galt also nicht für ihn? Was war das für eine Abmachung? Mit einem Ruck drehte ich mich zu ihm um. Doch ehe ich etwas sagen konnte, kam er mir zuvor. „Ich muss nicht lügen. Sie fragen nicht.“ Meine Wut verpuffte augenblicklich und machte ungläubigem Staunen Platz. Was waren Männer nur für seltsame Wesen? Sie fragten nicht… Waren sie blind? Merkten sie echt so wenig? Da standen sie Woche für Woche zusammen, teilten die Details neuer Digitalkameras und Großbildfernseher, schwärmten vom Favoritensieg in der Formel1, heulten beim Abstieg der Fußballmannschaft und bekamen nicht mit, wenn einer von ihnen sich veränderte? Häufig zu spät kam oder nur noch selten Zeit hatte? Es interessierte sie nicht. Sie fragten nicht. Sie blieben sich fremd. Wie der Christian de Neuvillette, der so sehr mit sich und seiner Liebe zu Roxane beschäftigt ist, dass er nicht merkt, wie sein guter Freund Cyrano verzweifelt. Und dann kommt’s, wie’s kommen muss… es endet tragisch. „Arme Irre“, seufzte ich und zog mich an. Matthias schlüpfte ebenfalls in seine Jeans. Dann, ich hatte es nicht kommen sehen, schlang er von hinten seine Arme um mich und küsste meinen Nacken. Gänsehaut überzog meinen Rücken und meine Arme und ich verlor für einen kurzen Moment jegliche Fassung. „Schätzchen, nicht dass ich dein Bett nicht zu schätzen wüsste, oder meins – oder meinen Dielenfußboden… aber ich bekomme langsam Platzangst. Draußen ist so schönes Wetter… lass uns doch das nächste Mal raus gehen, ja?“ „Was?“ ich musste mich verhört haben. Gänsehaut im Ohr. „Raus an die frische Luft in die freie Natur, wie du es nennen willst.“ Erklärte er noch mal. „Sex im Freien?“ Er musste mich für begriffsstutzig halten, aber ich wollte mich vergewissern. „Komm schon, sei nicht prüde Klärchen. Das entspricht dir doch gar nicht. Außerdem, hast du das eine Mal am See vergessen?“ „Da waren wir im Urlaub und es war Nacht!“, schimpfte ich. Ich konnte es jetzt gar nicht brauchen, wenn er alte Geschichten aus unserer Beziehung aufwärmte. Und ich hasste es, wenn er mich „Klärchen“ nannte. „Was macht das für einen Unterschied?“, fragte er und küsste meine Schulter. Er war so gemein. Ich drehte mich zu ihm um, sein Gesicht war jetzt ganz nah an meinem und ich musste mich konzentrieren, die Worte nicht zu verlieren. „Für mich gibt es einen Unterschied zwischen einer spontanen Liebesnacht irgendwo im Nirgendwo und geplantem Sex in einer Stadt, wo uns alle kennen.“, stieß ich ein wenig zu heftig hervor. Es hatte weh getan, mich an die Nacht am See erinnern zu müssen und es hatte noch mehr geschmerzt, davon zu sprechen. „Du hättest es also gerne etwas spontaner?“ Er grinste vielsagend. Ich hätte gerne Liebe, wollte ich antworten. Doch weil das nicht ging, sagte ich nichts. Da packte er mich, drückte seine Lippen auf meine und schob mich in den Wintergarten, der den Blick auf den Innenhof und die Dächer der Altstadt freigab. Er drehte mich zur Fensterfront, öffnete seine Jeans, schob meinen Rock hoch und nahm mich, während ich mich am Fensterbrett festhielt und zusah, wie eine Frau auf einem Dach gegenüber ihre Wäsche ins Haus holte.
Wir erweiterten also unsere Möglichkeiten. Und ich gebe zu, es hatte auch seinen Reiz, nicht genau zu wissen, ob wir entdeckt werden würden oder wo uns der Einfallsreichtum hinführte. Doch ich zog nach wie vor Wohnung und Bett vor. Denn irgendwo an eine Hausmauer gelehnt, in der dunklen Ecke einer Gasse, konnte ich mich nicht fallenlassen. Zu sehr war ich damit beschäftigt, anstrengende Positionen zu halten, raue Wände zu ignorieren und mir eventuelle Pisse- und Kotznischen gar nicht erst vorzustellen. Matthias schien diese neuen Varianten deutlich erregender zu finden. Also tat ich es mehr für seinen als für meinen Spaß. Und noch etwas änderte sich in unserem Zusammensein. Mehr und mehr ließen wir die Verabredungen sein. Was nicht hieß, dass wir uns deshalb weniger trafen. Ich weiß nicht genau, wie es funktionierte, doch wir begegneten uns häufig in Regensburgs Nachtleben. An ganz unterschiedlichen Orten. In der Stammkneipe selbstverständlich, doch auch in der Disco oder in einer Bar. Es war so, als ob uns eine Art Radar immer genau an die richtigen Stellen führte. Eines Abends erzählte ich ihm von meiner Radar-Theorie und er lachte. „Ich hab da auch schon drüber nachgedacht.“, begann er. „Und was wäre deine Erklärung?“, wollte ich wissen und freute mich, dass es auch ihm aufgefallen war. So sehr, dass er darüber nachgedacht hatte. „Ich bin da eher für die Kompass-Theorie. Du bist Norden und mein Schwanz ist die Kompassnadel. Ich brauch ihm nur nachzulaufen.“ Und wenn er mich dann gefunden hatte, verstanden wir uns ganz ohne Worte. Blicke, die unseren Begleitern gar nicht auffielen, planten, wie und wo es passieren sollte. Mal zwischendrin als Quickie in einem Hinterhof oder spätnachts noch, wenn die Begleiter abgehängt und die Köpfe berauscht waren.
Es war an einem dieser Abende, als wir uns stumm darauf geeinigt hatten, unseren Ohren von den wummernden Bässen in der Alten Mälze eine Pause zu gönnen um uns auf dem Parkplatz ein passendes Eck zu suchen. Für Anfang Mai war es schon erstaunlich warm. Nachts sanken die Temperaturen kaum unter 15 Grad. Matthias hatte kurz mit Mike und Stefan gesprochen und hatte sich abgeseilt. Wenige Minuten bevor ich dasselbe tat. Er wartete draußen auf mich. Wir verzogen uns ein eine Nische, wo ich die Füße bequem auf der warmen Motorhaube eines BMW abstellen konnte, während mein Rücken an der Wand lehnte. Ohne Zeit zu vergeuden drängte er sich an mich und füllte meinen Körper mit seinen Stößen. Und dieses Mal hatten wir Zuschauer. Ich konnte über Matthias’ Schulter hinweg die Eingangstüre sehen, wie sie sich öffnete und ein Mann eine Frau auf den Parkplatz zog. „Dieser Platz ist schon besetzt!“, dachte ich, nicht ohne einen Anflug von Panik, als ich sah, dass die beiden direkt auf uns zukamen. Doch wir standen im Schatten und ich wusste, dass sie höchstens Matthias Rücken erkennen konnten – wenn sie überhaupt etwas erkannten. Ich versuchte Matthias zu warnen, doch er küsste meinen Hals und ließ sich nicht beirren. „Na und?“ murmelte er leise und packte mich noch fester. Mir blieb die Luft weg. Ich war gefangen, wie in einem Schraubstock eingeklemmt und sah zu, wie das Paar näher und näher kam. Die Beiden küssten sich, ich konnte ihr Lachen hören. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zu ihrem Auto. Plötzlich schossen zwei Gedanken gleichzeitig durch meinen Kopf. Der BMW, auf dem meine Füße standen, gehörte einem von ihnen. Und ich wusste auch wem. Blankes Entsetzen traf mich und mein ohnehin schneller Herzschlag begann zu rasen. Es war Mikes Auto. „Mike!“, zischte ich scharf in Matthias’ Ohr, doch er hörte mich nicht. Seine Bewegungen waren mir unangenehm und ich wollte ihn wegstoßen und davonlaufen, doch Matthias war zu weit um mich noch loslassen zu können. Mike hatte dagegen bemerkt, dass sich vor seinem Auto etwas abspielte. Erst starrte er gebannt in unsere Richtung – ich betete, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte und ich hoffte er würde Matthias nicht erkennen – dann machte er eine Bewegung, als wenn ihm noch etwas eingefallen wäre und wandte sich seiner Begleitung zu. Die Frau drehte sich um und ging wieder zurück in die Kneipe. Mike dagegen blieb stehen und sah uns zu. Nicht eine Sekunde wandte er seinen Blick ab und ich tat dasselbe, spürte Matthias sich aufbäumen und mit einem Seufzen zuammensacken. „Mike!“, flüsterte ich noch einmal und diesmal begriff Matthias sofort. Schell und hektisch packte er sich zusammen. „Matthias?“, hörte ich Mike fragen. Die deutliche Belustigung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Doch ich wartete nicht ab, wie Matthias reagieren würde. Ich nahm meine Beine in die Hand, drehte mich um und lief geschützt in der Dunkelheit davon.
„Wo bist du denn gestern hin? Wir haben noch ewig auf dich gewartet! Hättest ja wenigstens ’ne SMS schreiben können!“, schimpfte Karin, während sie sich in meiner Küche ein Glas Wasser eingoss. Sie leerte es in einem Zug. Wieder so ein heißer Maitag. „Tut mir leid, mein Akku war alle.“, entschuldigte ich mich wahrheitsgemäß, um dann zu lügen: „Ich musste wirklich heim. Mir war’s einfach zu warm da drin.“ Karin musterte mich eingehend. Ihre dichten, schwarzen Augenbrauen zogen sich über ihrer langen Nase zusammen und sie schürzte ihre Lippen missbilligend. Dann goss sie sich in aller Seelenruhe erneut Wasser in ihr Glas. Nicht ohne mich aus den Augen zu lassen. Mir war es unangenehm, so durchleuchtet zu werden. Schließlich hatte ich ja auch etwas zu verbergen. Dann grinste sie. „Du flunkerst mir doch was vor.“ Ihre braunen Augen strahlten wissend. Sie trank erneut und wartete. Sie wartete, dass ich mich verraten würde. Und ich verriet mich, denn ich spürte, wie meine Wangen glühten. Ich lief rot an. Karin registrierte es zufrieden und ihr Grinsen wurde noch breiter. „Ha!“, rief sie. Und dann noch mal „Ha! Du hast ’nen Kerl!“ Ich konnte nicht antworten. Ich wusste einfach nicht was. Ich stand da, rot wie eine Tomate, stumm wie ein Fisch, während mein Kopf versuchte Ausreden zu finden, die nicht dämlich klangen. Für Karin war es eine erneute Bestätigung. „Ist doch super! Wer ist es denn? Kenn ich ihn?“ Jetzt, genau jetzt beneidete ich Matthias um seine Freunde, die nichts merkten und nichts fragten. Naja, nach gestern Nacht hatte sich das vielleicht geändert. „Karin, das ist ganz anders als du…“, setzte ich an, doch Karin hatte eine Theorie und ließ sich nicht unterbrechen. „Klar, das ist es immer. Aber ich hatte auch schon Lückenfüller-Beziehungen, weißt du. Nachdem das mit Andreas aus war, war ich total fertig – so wie du jetzt nach diesem Matthias-Ding. Er ist ein Arsch, wenn du mich fragst. Und kurz darauf – also nach Andreas, noch vor Frank – da hab ich mir auch einen Lückenfüller zugelegt. Patrick aus dem Griechisch-Seminar. Das war gut!“ Und wie um die wohltuende Wirkung zu betonen, genoss sie ihr restliches Wasser und leckte sich über die Lippen. „Naja, eine Beziehung ist das nicht gerade…“, versuchte ich mich aus dem Gewirr von Ausreden zu manövrieren, dass meinen Kopf füllte. Ich durfte mich nicht verraten. Wenn rauskam, dass Matthias und ich… es wäre mit einem Schlag zu Ende. Streng dich an! Streng dich an! Ich drehte Karin den Rücken zu und beschloss Kaffee zu machen. Meine Hände brauchten Beschäftigung. „Ja dann nenn es meinetwegen eine Affäre, wie du willst. Tatsache ist, dass sich jede enttäuschte Frau so etwas leisten sollte. Das baut einen wieder auf, man investiert nicht viel und kann es im Bestfall diesen Idioten auch noch irgendwie heimzahlen.“ Karin war so weit daneben. Ich wollte nicht heimzahlen, ich wollte Matthias. „Nein, du bist da auf dem Holzweg…“ Meine Hände portionierten Kaffeepulver und in meinem Kopf ging es drunter und drüber. „Oh!“ Ich hörte, wie sich Karin mit der flachen Hand an die Stirn schlug. Sie hatte also eine neue Theorie. Ich seufzte und Karin plapperte auch schon drauflos. „Es war nur für den einen Abend oder? Ich quatsche da was von Beziehung und Affäre und du hattest einen One-Night-Stand!“ Sie kicherte, wie eine Dreizehnjährige. Immer noch unfähig zu antworten, drehte ich mich wieder zu ihr, in Erwartung, dass sie jetzt vor Aufregung auch noch anfangen würde zu Klatschen. Aber sie ließ es. „Wer? Kenn ich ihn?“, fragte sie mit wissbegierigem Blick. „Nein.“, antwortete ich schnell und versuchte meine Mimik unter Kontrolle zu halten. „Wie magst du deinen Kaffee?“ „Wirklich nicht? Schwarz mit Zucker… außer du hast Vanilleeis da, dann mach’ ich mir ’nen Eiskaffee. Ich kenn’ ihn wirklich nicht? Ich kenn’ die halbe Stadt!“ Warum konnte sie nicht locker lassen? Ich griff nach einer Tasse im Regal und ließ zwei Stück Zucker hineinfallen. Ich hatte kein Vanilleeis. „Du kennst ihn wirklich nicht.“ „Wie heißt er? Vielleicht kenn’ ich den Namen?“ Ich stöhnte genervt. Es reichte jetzt wirklich. „Nein, den kennst du nicht. Weil ich ihn auch nicht kenne. Kein Name – nur Sex, verstanden?“ Gute Antwort. Karin war verstummt. Ihr Blick war jetzt nicht mehr der einer dreizehnjährigen besten Busenfreundin, sondern der einer besorgten Übermutter. „Du hattest Sex mit einem Unbekannten?“ Das hörte sich an, wie ein bescheuerter Filmtitel, aber ich musste jetzt bei dieser Variante bleiben. Wenn sie doch bloß aufhören würde zu fragen. Ich nickte und sah die Standpauke schon anrollen. Die nächsten fünf Minuten waren gefüllt mit Sätzen wie: „Ihr habt doch verhütet, oder? Man weiß ja nie…“, „Wie? Einfach so irgendwo draußen?“ und „Oh Gott, was alles hätte passieren können!“. Ich ertrug es, goss Karin und mir Kaffee in die Tassen und murmelte Schuldeingeständnisse vor mich hin. „Das hast du doch nicht etwa nur gemacht um Matthias eifersüchtig zu machen, oder?“ Ich zuckte zusammen. „Matthias?“ „Ja, dein bescheuerter Ex war doch auch da. Zusammen mit den anderen Idioten… wie heißen die gleich noch mal? Hast du sie nicht gesehen?“ „Nein.“ Ich hatte genug. Ich wollte nicht mehr. Und schon gar nicht wollte ich über Matthias reden und mich in Widersprüchen verzetteln. „Karin, lass uns doch das Thema wechseln, bitte. Die Sache mit Matthias: Ich bin noch nicht drüber weg – auch nicht nach gestern und JA, es war bescheuert mit einem Kerl zu schlafen, den ich nicht kenne. Reicht das jetzt bitte?“ Und endlich, endlich reichte es auch. Wir wechselten das Thema. Sie schwärmte von ihrer neuen Wohnung, in die sie mit Frank ziehen wollte. Gar nicht so weit weg von mir, in der Nähe des Stadtparks hatten sie eine kleine Dachgeschosswohnung in einer Altbauvilla ergattert. Für August hatten sie den Umzug geplant. Dann war der Kaffee getrunken und die Arbeit rief wieder. Ich musste für morgen noch eine Doppelstunde Leichtathletik für die Fünfte vorbereiten und Karin rief es zurück zu ihrer Magisterarbeit.
Keine halbe Stunde später – ich war mit den Aufwärmübungen durch – stand Matthias in der Tür. „Ich dachte nur, es würde dich interessieren, wie das gestern noch ausgegangen ist.“, sagte er anstatt einer Begrüßung. Meine Augen hatten meine wichtigste Frage wohl schon übermittelt, denn er schüttelte beruhigend den Kopf: „Mike hat dich nicht erkannt.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich seufzte erleichtert. „Er hat sich allerdings gefragt, warum du so schnell abgehauen bist.“, erzählte Matthias weiter. Er kam mit mir in die Küche, schnappte sich ein Glas vom Regal und goss sich Wasser ein. Ich musste morgen wohl gleich neues kaufen gehen. „Was hast du gesagt?“, wollte ich wissen. „Das es ihn nichts angeht und dass er seine kleine Schweinenase da raushalten soll.“ „Das war alles?“ Matthias nahm einen Schluck und nickte. „Und das hat funktioniert?“ Ich konnte es kaum glauben, dass Mike sich so einfach hatte abspeisen lassen. Wieder nickte er. „Natürlich haben er und die anderen mich den restlichen Abend noch tüchtig aufgezogen. Mike hat dauernd gestöhnt und Bemerkungen über meinen nackten Hintern gemacht.“ Er verzog abschätzig den Mund. Ich dachte an Mikes Gesichtsausdruck gestern Nacht. Da war nichts Belustigtes, nichts Ironisches gewesen. Da war Interesse gewesen. Es hatte ihn erregt – deshalb hatte er die Witze gerissen. Matthias holte mich aus meinen Gedanken. „Und bei dir? Irgendwelche Reaktionen auf dein plötzliches Verschwinden gestern? Karin und wie heißt die Kleine mit der Brille gleich noch mal? Egal. Die schienen irgendwie beunruhigt.“ „Cordula. Die Kleine mit der Brille heißt Cordula.“ Matthias zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe heute zugeben müssen mit einem Unbekannten geschlafen zu haben.“, sagte ich so herausfordernd wie möglich. Karin hielt mich jetzt für ein Flittchen. Im Vergleich dazu hätte ich mir liebend gerne Bemerkungen über meinen nackten Hintern angehört. „Jetzt gelte ich bei meinen Freunden offiziell als total durchgeknallt und hemmungslos.“ Matthias grinste. „Das fällt denen jetzt erst auf?“ Er trat auf mich zu, strich mit seinem Zeigefinger über meine Wange, meinen Hals hinunter und mein Schlüsselbein entlang. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Er roch nach Sonnencreme und Schweiß. Sein Atem streichelte meine Haut unterhalb meines Ohrs, als er sich zu mir beugte. Seine Stimme war ein Flüstern. „Und wie war das noch mal mit dem Unbekannten? Erzähl es mir. Alle schmutzigen Details.“