…für den Kram

Ich habe einen schmerzenden blauen Fleck. An meiner Wirbelsäule. Genau da ganz oben an dem Wirbel der so raussteht, weil wir immer in dieser Fehlhaltung sind, vor dem Rechner und dem Handy. Der Wirbel, der so raussteht, wenn wir mit unserem Kopf schildkrötenartig in irgendeinen Bildschirm kriechen.

Ich könnte mir jetzt eine Erklärung einfallen lassen, wie „ich hatte bei der Hausarbeit einen Unfall“ oder „ich habe mich in der Arbeit an meinem Brennofen gestoßen“, aber nein, ich will ehrlich sein: Ich habe einen Purzelbaum gemacht. Auf Linoleumboden, Ohne Matte. Weil ich fit und jung und furchtlos wirken wollte. Das laute Krachen und die erschrockenen schnappenden Atmer der Umstehenden haben mir schon gesagt, dass das ein Fehler war – noch bevor der Schmerz einsetzte.

Ich ärgere mich. Ich war dumm. Das war unnötig. Ich hätte einfach sagen sollen: „Leute, ich bin wirklich zu alt für diesen Sch… Kram“ (sie sagte Kram, Kinder). Aber ich wollte nicht alt sein. Und ja, alles an diesem Text schreit: „Seht her! Ich bin in der Midlife-Crisis!“ Bin ich auch. Muss ich das vertuschen? Mir irgendwie schönreden? Und geht es dann vorbei?

Wisst ihr, was ich gemacht habe, bevor ich diesen Text geschrieben habe? Ich habe nach Studiengängen gesucht, für die ich mich einschreiben könnte. Ich habe mit schmerzendem Nacken und schildkrötenartig vorgerecktem Kopf nach „Zulassungsvoraussetzungen“ gesucht und mich gefragt, in welchem dieser vergessenen Papierstapel in unserem Büro mein Abiturzeugnis vergraben liegt. Das ist doch erbärmlich! Bin ich nicht schon zu alt für einen Bachelorstudiengang Soziale Arbeit (mit Schwerpunkt auf Musik und Bewegung)?

Bin ich nicht schon zu alt, alles, was ich mir aufgebaut habe, hinzuschmeißen? 10 Jahre Wolperdinge-Keramik in meiner kleinen Kleinstadt Kelheim. Jubiläum! Oder Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe? Ausverkauf wegen Midlife-Crisis? Last Order. Sonderrabatt.

Und wer mich kennt, der weiß, dass ich schon allen, die es wissen und nicht wissen wollten von meinen Überlegungen erzählt habe. Euch jetzt also auch. Im Worldwideweb. Es gehr also raus in die große Welt (jaja, in menen Träumen). Und die Reaktionen bisher waren ebenso geradlinig, wie die (wahrscheinlich) hormonellen Schwankungen, die sich mein Körper so einfallen lässt. Von „super, mach das“ über „echt jetzt?“ bis hin zu Lachanfällen war schon alles dabei. Und immer, wirklich immer ein Schulterzucken und ein „mei, das musst du selber wissen“. Und ich weiß es. Ich weiß, dass ich es selber wissen muss. Und selber entscheiden muss. Ich bin ja schon groß.

An dem letzten gemeinsamen Weihnachten, das ich mit meiner Schwester verbringen durfte, schenkte sie mir ein Zitat auf einer Karte. Die Karte liegt wahrschienlich mit dem Abiturzeugnis in einem dieser Papierstapel, aber ich habe mir den Spruch gemerkt. Das Zitat ist von Bettina von Arnim und beginnt mit „Finde dich“. Und dann weiter:

Für mich hat das immer bedeutet: Mach, was dein Herz dir sagt. Geh dahin, wo du glücklich bist.

Und mein Herz so: Keine Ahnung!

Und mein Kopf so: Ich weiß es doch auch nicht, Mensch!

Und dann: Purzelbaum.

Au. Aua!

Ich bin zu alt für diesen Sch… Kram (sie sagte Kram, Kinder). Oder doch nicht?

Das weihnachtliche Stiefkind

Von all den Türchen im Adventskalender, hat es das 24. am schwersten. Das Warten ist vorbei, die Bescherung folgt, insofern ist nichts unwichtiger, als der Inhalt des letzten Türchens.

Bei uns zu Hause liegt der Inhalt noch tagelang rum, bevor einer sagt: „Wem gehört das? Räumt das mal weg!“, gefolgt von einem „Meins ist das aber nicht!“ und einem „Wahrscheinlich noch vom Adventskalender“.

Trotzdem bemühen wir uns jedes Jahr, den 24. mit etwas Besonderem zu füllen. Extratolle Schokolade, ein salbungsvoller Spruch, goldener Glitzer und Heiligkeit. Das geht mir bei meinem Wolperdinge-Adventskalender ganz genauso. Besonders soll es sein, zum Abschluss. Und eine Zusammenfassung irgendwie. Und ein weihnachtlicher Gruß natürlich.

Und doch wird der Inhalt des letzten Wolperdinge-Türchens untergehen, in den zahllosen Grüßen und Wünschen, in der Hektik und dem Gedudel, in den Vorbereitungen und den Feiern.

Das ist auch ganz in Ordnung so.

Ihr habt Wichtigeres zu tun, als euch von einem „Stille Nacht“ zum zeichnen oder dichten inspirieren zu lassen und das zu posten. Das meine ich ganz ohne Bitterkeit.

Lasst euch von „Stille Nacht“ zur Stille inspirieren. Zum Innehalten. An Weihnachten ist das schon schwer genug. Aber ich bin zuversichtlich, dass es euch gelingt. Und ich wünsche es euch sehr. Ob ihr nun glaubt, oder was ihr glaubt – mein Wunsch an euch ist wie immer. Wie immer für alle:

Let love rule.

Gesegnete Weihnachten!

Lukas LK21, 20-28

Über die Endzeit.

Ich habe diese Bibelstelle mal an einem ersten Advent oder so gehört – und mir nur die letzte Zeile behalten. Das mit der Wolke war mir zu g’spinnert, ehrlich gesagt.

Sich aufrichten, Haltung annehmen – daran bin ich hängengeblieben. Und es war für mich seitdem immer eine Erinnerung an die Person, die ich sein will. Eine Person mit Haltung. Aufrecht und deutlich. Und ich denke, für meine Verhältnisse bekomme ich das ganz gut hin.

Für meine Verhältnisse: Ein privilegiertes Leben in einem reichen, demokratischen Land. Aber wie aufrecht bin ich noch, wenn die Endzeit wirklich kommt? Kann ich dann noch Haltung haben?

Ich sehe die Bilder und Nachrichten von Menschen im Iran, die Haltung annehmen, sich aufrichten, für sich und andere einstehen – und dafür mit ihrem Leben bezahlen. Da ist so viel Mut, den ich nie hätte.

Ich sehe die Bilder und Nachrichten von Menschen aus der Ukraine, die mit der Waffe in der Hand für ihre Souveränität kämpfen. Nicht, dass ich ein Fan von Waffen oder Kampf bin – aber das kann ich nur fassungslos respektieren.

Für diese Menschen (und so viele andere auf der Welt) hat die Endzeit schon begonnen. Das Meer tobt und donnert bereits. Und sie richten sich auf.

Und da sind dann noch die Unglücklichen, die Traurigen. Die gebückt gehen, weil so viel auf ihren Schultern lastet.

Für mich ist es einfach, mich aufzurichten – ohne das alles. Und dafür bin ich dankbar.

Und jetzt wäre jede Überleitung zu meinem kleinen Adventskalender-Wochenrückblick schief. Aber auch hierfür bin ich dankbar (ja, die Überleitung knirscht – egal.)

12 Ganz weiß und ganz pelzig

13 Erd, schlag aus!

14 aufs glitzerblanke Eis

15 dein Kleid will mich was lehren

16 der Atem raucht

17 da bleibt ein goldener Schein zurück

18 richte dich auf

Friedlichen, guten, aufrechten 4.Advent euch!

Oh, diese Woche!

Die Vor-Christkindlmarkt-Woche ist immer ganz speziell. Mein Alltag wirbelt durcheinander, ich habe ständig das Gefühl, irgendwas zu vergessen oder vergessen zu haben*, laufe durch meine Tage und motze, auch wenn ich eigentlich auch voller Vorfreude bin.

In dieser Woche Zeit zu finden, meinen Adventskalender zu bestücken, war nicht einfach. Aber – oh – es hat sich so gelohnt! Weniger das, was ich gemacht habe, sondern das, was ihr gemacht habt. Deshalb hier in kleiner Ausschnitt:

…so schneit es nichts als Marzipan

Säume nicht

Auch wer zur Nacht geweinet

Dieses Tier mich lächeln machte

Die Zweiglein der Gottseligkeit

Es ist so schön, das alles zu lesen! Macht weiter so. Auch wenn zumindest meine Woche wieder spziell und mein Alltag geschrottet wird. Schließlich ist Christkindlmarktwoche.

*vergessen habe ich definitiv meine Öffnungszeiten anzupassen, oder hier auf dem Blog mal ne Marktinfo abzusetzen… ups.

Irgendwie für mich

Derzeit läuft mein Wolperdinge-Adventskalender. Jeden Tag gibt’s einen Satzschnipsel oder ein paar Wörter, zu dem alle herumspinnen und in welcher Weise auch immer kreativ sein können. Dass ich dazu auch meine Ideen beisteuere, ist klar. Und schon während der ersten Tage ist mir etwas aufgefallen: Es sieht ganz schön düster aus in meinen Assoziationen.

Zu „wenn das alles beginnt“ war ich gedanklich beim Weltuntergang, bei „was in unseren Herzen dunkel ist“ war alles schwarz und neidisch und bei „gekräuselt und gestutzt“ hielt sich meine Assoziation auch eher am Begriff „zurechtgestutzt“ fest.

Ich weiß auch nicht, woran das liegt. Es ist viel Schwere um mich herum gerade. Trennungen, Tod, Krankheit, Überforderung. Und auch eine Art Melancholie, die mich öfter um diese Jahreszeit begleitet. Vielleicht ist das meine Art, damit umzugehen. Düsteres zu zelebrieren.

Und dann lese ich eure Einfälle in den Kommentarspalten.

Zu „wenn das alles beginnt“ steht da zum Beispiel:

Und zu „was in unseren Herzen dunkel ist“:

Und zu „gekräuselt und gestutzt“ will es auch nicht wirklich düster werden.

Sebst zum Splatter-Schnipsel „ohne Beine, Kopf, Gekröse“ erreicht mich das:

Ach Leute, das ist so schön! Es holt mich jeden Tag wieder aus meiner Melancholie. Macht weiter! Ob düster, oder lustig oder poetisch. Ich liebe es schon jetzt. Dieser Adventskalender sollte von mir für euch sein – aber er ist auch von euch für mich, irgendwie.

Was fällt dir denn ein?

Ein Adventskalender.

„Ist das ihr Ernst? Was fällt der denn ein? Als hätten wir vor Weihnachten nicht schon genug zu tun. Und jetzt sollen wir auch noch – was eigentlich?“

Malen, zeichnen, basteln, schreiben – das sollt ihr.

Mein diesjähriger Wolperdinge-Adventskalender ist wieder mit kleinen Aufgaben verbunden. Jeden Tag gebe ich euch einen Satz oder ein paar Wörter vor, die ich in einschlägiger Adventslektüre gefunden habe. Oder die mich adventlich angesprungen haben. Nicht immer ist der Weihnachtsbezug ersichtlich – aber das muss ja auch nicht sein. Diesen Satz, diese Wörter, etc. nehmt ihr und setzt euch hin. 10 Minuten, 20 Minuten, was gerade geht. Und dann schreibt, skizziert, kritzelt, malt, bastelt, fotografiert oder dichtet ihr was euch zu dieser Vorgabe einfällt. Auch das muss keinen Weihnachtsbezug haben, übrigens.

Ich mache dasselbe. Jeden Morgen lade ich eine neue Vorgabe und meine dazugehörigen Einfälle bei Facebook und Instagram (wolperdinge #wolperdingeadvent22) hoch (und zusätzlich gibt’s natürlich eine Station hier und in meinem Laden). Ihr könnt eure Einfälle, Texte, Skizzen, wasauchimmer gerne dazuheften. Ihr müsst aber nicht.

„Und was soll das?“

Naja, ich habe im vergangenen Jahr sehr sehr schöne und wirklich entspannende Momente damit verbracht, einfach vor mich hinzuschreiben, herumzuspinnen, ein wenig zu kritzeln. Mit und in der Schreibwerkstatt von Eva Honold, mit meinen Ist-das-Kunst-oder-kann-das-weg-Freund*innen von KWAK, mit den Theaterleuten oder mit guten Freund*innen. Wichtig ist, dass nur das zählt, was in diesem Moment passiert. Wichtig ist, dass ihr euch Zeit nehmt für euch. Zum Spielen. Zum Kreativ-sein. Nur 20 Minuten weg von allem. Mit Stift und Papier.

Obwohl Weihnachten mit großen Schritten kommt – oder gerade deswegen.

Und am Ende der Adventszeit habt ihr eine kleine Sammlung voller Ideen. Gute, nicht ganz so gute, unbedingt umzusetzende. Ein kleines Geschenk von euch an euch.

Ich hoffe, ihr macht mit.

Zufallsthema, Teil1: Faschisten im Kopf

Was fange ich nun damit an?

Als kreative Übung habe ich wahllos Begriffe zusammengestellt, um darüber zu schreiben. Die Kombination „Faschisten im Kopf“ macht den Anfang.

„Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein, man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt“, singt Danger Dan in „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“. Und ich bekomme seit dem 25.September 2022 dieses Ohrwurm-Bruchstück nicht aus meinem Kopf.

Am 25.September haben die Italiener*innen die (Post-)Faschistin Giorgia Meloni an die Macht gewählt. Ich halte es bewusst so simpel, weil es so in seiner ganzen Schrecklichkeit vielleicht doch noch dem ein oder anderen bewusst wird.

Eine Frau, die nach eigener Aussage schon „rechts geboren“ wurde.

Eine Frau, die nach eigener Aussage ein entspanntes Verhältnis zum Faschismus hat.

Hier eine Definition aus dem Oxford-Wörterbuch

Eine Frau, die gegen queere Menschen und gegen Migranten hetzt. (Quelle, zum Beispiel hier)

„Italien zuerst“ – soso.

Ihr enger Vertrauter Ignazio La Russa wird Senatschef. Ein Mann, der Bilder und Statuen des Faschismus-Begründers und Diktators Benito Mussolini zu Hause rumstehen hat. (Man stelle sich mal vor, in Deutschland würde die Person mit dem zweithöchsten Amt im Staat freudig seine NS-Devotionalien und Hitler-Statuen zeigen und den Menschen in der Pandemie statt eines Handschlags den Hitlergruß empfehlen…) (gerne auch hier nachlesen)

Von ihren Koalitionspartnern Salvini und Berlusconi – ach, mir wird schon schlecht, wenn ich an die beiden nur denke – ganz zu schweigen.

Die Mehrheit der Italiener*innen hat diese Leute an die Macht gewählt. Was sagt das über die Italiener*innen aus?

Ich finde: Wer Faschist*innen wählt, ist entweder sehr sehr dumm – oder selbst Faschist*in. Etwas anderes lasse ich nicht gelten. Nicht in diesem Fall. Kein „die Menschen fühlen sich abgehängt und wollen der bisherigen Regierung und/oder der EU nur einen Denkzettel verpassen“ oder „die sind auf ihre bürgerliche Fassade reingefallen“. Frau Meloni hat nie einen Hehl daraus gemacht, wer sie ist und was sie denkt. Sie ist keine Wölfin im Schafspelz. Die Menschen haben bewusst die Wölfin gewählt. Ich finde das abstoßend. Keine Italienurlaube mehr demnächst. Denen gebe ich kein Geld mehr für überteuertes Eis in Florenz. (Ich weiß, wie armselig sich das liest)

„Aber halt“, meldet sich dann der Teil meines Hirns, der sich von der Tatsache, dass die Italiener*innen diese rechtsradikalen …äh… Personen gewählt haben, nicht völlig aus der Fassung hat bringen lassen. „Bestimmt sind nicht alle Italiener*innen so. Die Mehrheit wollte das doch sicher nicht.“ Äh… doch. Die rechten Parteien haben die Mehrheit der Wählerstimmen. Aber zur Sicherheit schmeiße ich mich ins Internet. „Bella ciao“, diese antifaschistische Partisanenhymne, müsste doch jetzt die Sozialen Medien dominieren (zur Abwechslung nach dessen Verwendung bei Querdenker-Protesten mal wieder mit Sinn). Wann, wenn nicht jetzt, wäre „bella ciao“ angebrachter?

Ich tippe und suche und finde – nichts. Keine Berichte oder Videos von Italienern, die auf den Straßen oder in Kirchen oder im heimischen Wohnzimmer ihren Widerstand singend kundtun. Das aktuellste Video zum Suchbegriff „bella ciao“ auf YouTube, ist das einer Iranerin. Sie singt zur Meldodie des italienischen Partisanen-Klassikers einen anderen Text. Gegen die Unterdrückung der Frauen/Menschen im Iran (ich möchte hier anfügen, wie mutig und berührend ich das finde. #frauenlebenfreiheit!).

Aber die Italiener? Nichts, das in meine antifaschistische Blase gespült worden wäre. Und im Rest von Europa? Ich lese, Bundeskanzler Scholz hätte zum Amtsantritt gratuliert und die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen freue sich auf eine „konstruktive Zusammenarbeit“. Im Europamagazin der ARD heißt es, Meloni versuche jetzt, gemäßigt zu wirken. Die Wölfin versucht sich also einen Schafspelz anzuziehen und hier alle so: „Mei, die Meloni, das ist doch nur ein Schäfchen.“ Nein!

FASCHISTEN HÖREN NIEMALS AUF, FASCHISTEN ZU SEIN!

FASCHISTEN HÖREN NIEMALS AUF, FASCHISTEN ZU SEIN!

FASCHISTEN HÖREN NIEMALS AUF, FASCHISTEN ZU SEIN!

Die Krise

Nein, es geht nicht um Gas, nicht um Geld und nicht um Politik. Es geht um ein seltsames Gefühl, das mit Midlife-Crisis beschrieben werden könnte, es aber auf keinen Fall wird, weil das ja hieße man wäre alt und schwach und lächerlich.

Ich bin nicht alt und schwach und vielleicht höchstens ab und zu mal lächerlich. Und trotzdem… ich glaub‘ ich hab die Krise.

Ausgelöst durch den Umstand, dass mein großes Kind mit dem Abitur fertig ist – just in dem Jahr in dem mein Abiturjahrgang sich zum 25.Jubiläum trifft. Für beide Ereignisse brauchte es Vorbereitungen. Wie ich feststellen musste, Vorbereitungen, die sich ähneln. Da ging es um Abistreiche, Abifeiern, Abizeitungen – immer verglichen und abgeglichen mit meinen Erinnerungen. Jeder zweite Satz zu meinem Kind begann mit „also wir hatten ja damals…“, abschließend garniert mit einer Anekdote von vor 25 Jahren. Dass das kein Spaß ist, weiß ich selbst. Denn innerlich kann ich über mein Verhalten nur den Kopf schütteln. Warum mache ich das? Was soll das? Ich klinge wie in der Midlife-Crisis! Bäm, da ist es, das schlimme Wort.

Ein Wort, das auch bei meinem Klassentreffen am vergangenen Wochenende niemand in den Mund nehmen wollte. Wir doch nicht. Wir aber mal wirklich nicht. Wir sind jung und dynamisch und… begannen aber trotzdem jeden zweiten Satz mit „Weißt du noch?“

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, meine ehemaligen Mitschüler*innen zum Thema „Midlife-Crisis“ auszuquetschen – aber ehrlich, ich hab’s vor lauter Spaß total vergessen. (Ehrlich, es war mir wiedermal ein Fest, Leute!)

„Ist es nicht erstaunlich, dass ich mich nicht an den Titel des Buchs erinnern kann, das ich gerade lese – aber die Theatertexte aus der 12. Klasse noch fehlerfrei herunterzitieren kann?“ – hörte ich mich meine ehemaligen Klassenkamerad*innen fragen. „In dieser Zeit, in diesem Alter wirst du halt geprägt“, kam die Antwort.

Na gut, es gibt auch einige Dinge, an die ich mich lieber nicht erinnern will. Denn eigentlich war mir in dieser Zeit so ziemlich alles peinlich. Also alles. Ich war jung und ignorant und lächerlich. Und – ich hatte die Krise. Das zumindest geht aus dem Artikel hervor, der über mich in meiner alten Abizeitung steht. (Vielen Dank auch, Grasi!)

Kuck an. Hat sich nicht so viel verändert – und doch alles.

Aber was ich eigentlich sagen will:

Damals – vor 25 Jahren, als Chrisu-die-Krise, jung, ignorant, lächerlich – hatte ich eine wirklich gute Zeit.

Warum sollte das jetzt – als Christine-die-Midlife-Crisis, (gar nicht mal so) alt, (gar nicht mal so) schwach, (vielleicht ab und zu) lächerlich – nicht auch so sein?

Was ist, wenn wir uns diese Zeiten in unserem Leben, in denen sich vieles verändert, nur immer schlecht reden, weil wir Angst vor der Lächerlichkeit haben – es aber genau diese schrägen Momente sind, an die wir uns später gerne erinnern? Ich will das mal so sehen wollen.

Denn dann hab ich sie jetzt eben – die Krise! Mit allem, was dazugehört. Yoga, VHS-Kurse und Selbstfindung beim Töpfern. Halt nein, das ist ja mein Beruf…

Viele Reden, kurzer Sinn

Eine Schulaula, voll besetzt. Technische Probleme mit dem Mikrofon. Hektisches Fotografieren der Eltern – entgegen aller vorheringen Hinweise, das bitte zu unterlassen. Grußworte. Reden. Zeugnisübergabe. Applaus.

Darauf lassen sich die meisten Schulabschlussfeiern herunterbrechen, denke ich. Und es sind überwiegend auch eher langweilige Veranstaltungen. Doch das fällt zum Glück nicht auf, weil die Gäste so aufgeregt sind, dass es eh wurscht ist. Der Sohn, die Tochter, man selbst hat das Abitur (die Mittlere Reife, den Quali, wasauchimmer) geschafft! Der Rest ist Nebensache. Und so erwartet man sich auch nicht recht viel von den Grußworten und den Festreden.

Eine kleine Auswahl aus der Abiturientenverabschiedung meines Kindes:

„Sie sind die Elite Deutschlands“

„Jetzt beginnt eine aufregende Zeit.“

„Schön war’s.“

„Freunde gefunden… gelernt… gelacht… sich auch mal geärgert… aber trotzdem…“

„Bildung ist nicht gleich Wissen.“ (anscheinend das neue „nicht für die Schule lernen wir…“)

„Vielen Dank an alle, die uns auf unserem Weg begleitet haben.“

„Besuchen Sie Ihre alte Schule vielleicht mal wieder. Wir würden uns freuen.“

„Feiern S‘ g’scheit!“

Und dann mittendrin zwei Formulierungen aus zwei unterschiedlichen Reden, die trotz der ganzen Stolzhormone zu mir durchgedrungen sind:

Die erste (sinngemäß): „Und denken Sie dran, Sie müssen nicht studieren. Ziehen Sie ruhig auch einen handwerklichen Beruf in Betracht.“

Die zweite: „The Road Not Taken von Robert Frost ist eines der wohl am häufigsten fehlinterpretierten Gedichte.“ Konkret ging es um diesen letzten Absatz:

(von http://www.poetryfoundation.org
Übersetzt von Paul Celan:
Dies alles sage ich, mit einem Ach darin, dereinst
und irgendwo nach Jahr und Jahr und Jahr:
Im Wald, da war ein Weg, der Weg lief auseinander,
und ich – ich schlug den einen ein, den weniger begangnen,
und dieses war der ganze Unterschied.

von denkzeiten.com)

Der wohl häufig so interpretiert wird, dass der weniger ausgetretene Weg, der bessere sei und… blabla… dingenskirchen… stimmt das wohl nicht.

In meinem Kopf vermischen sich diese beiden Formulierungen und nerven mich mit der Frage, welche Wege ich in meinem Leben genommen habe und welche ich meinen Kindern empfehlen würde.

Als unstudierte Handwerkerin mit durchaus gutem Abitur würde ich aus meiner Erfahrung heraus meinem Kind raten: NEIN! Zieh erstmal keinen handwerklichen Beruf in Betracht. Wenn du kannst, studiere! Studiere was auch immer. Aber studiere. Ich weiß, das ist eine ziemlich unpopuläre Einstellung und klingt nach Eislaufmutti mit unverwirklichten Träumen. Ja, stimmt schon irgendwie. Tatsache ist aber: Ich habe mich nach dem Abitur für einen handwerklichen Beruf entschieden (den ich wirklich wirklich mag! Ehrlich!) und habe den Weg betreten „that has made all the difference“. Einen Weg zurück zum Studium gab es nicht mehr. Und das hat mich in meinen beruflichen Ambitionen schon so oft ausgebremst, dass ich es gar nicht mehr zählen kann.

So kann man zum Beispiel als ausgebildete Rundfunkredakteurin beim Bayrischen Rundfunk nur einen Redakteurs-Job ergattern, wenn man studiert hat. Egal was! Wirklich und ehrlich wahr: EGAL WAS! (Und um einem das zu sagen, lassen sie einen extra in München antanzen)

So kann man als Quereinsteigerin an einer staatlichen Schule nur unterrichten, wenn man studiert hat. Nicht unbedingt Pädagogik, aber halt was anderes.

So bringt einem die Zusatzausbildung zur Theaterpädagogin nur wirklich was, wenn man schon mal ein paar Semester (vorzugsweise) Pädagogik studiert hat.

Und das ist nur ein kleiner Teil meiner Erfahrungen. Und die möchte ich meinem Kind ersparen. Deshalb: Wenn du kannst, Kind, studiere. Uns wenn’s dir keinen Spaß macht, kannst du immer noch töpfern.

Wobei auch dafür eine Stelle im Gedicht steht:

(von Paul Celan übersetzt mit:
Doch wissend, wie’s mit Wegen ist, wie Weg zu Weg führt,
erschien mir zweifelhaft, daß ich je wiederkommen würde.

von denkzeiten.com)

Will sagen (wenn ich es nicht falsch interpretiere): So einfach ist das nicht, mit den Entscheidungen. Denn sind sie mal getroffen, gibt es kein Zurück.

So ist das eben im Leben und das ist die meiste Zeit auch ganz okay so. Aber es fällt uns besonders in den Momenten auf, in denen wir andere Menschen sehen, die alle diese Entscheidungen noch vor sich haben. Bei Schulabschlussfeiern zum Beispiel. In vollen Schulaulen, mit quietschenden Rückkopplungen und gezückten Handykameras liegen sie in der Luft – diese Möglichkeiten!

Alles sauber

Vor Kurzem hatte ich einen kleinen Ausflipper auf facebook.

Ich hatte das Gefühl, die Hausarbeit wächst mir über den Kopf, die Termine sind zu viel und sowieso bin ich total überfordert – mit allem.

„Schreib dir doch einen Essensplan“, kam der Ratschlag. Ein guter Ratschlag. Sofort habe ich mich hingesetzt und geplant. Denn das mache ich mittlerweile in vielen Bereichen. In der Werkstatt (was töpfere ich heute?), in der Schule (was töpfern die Kinder heute?), in Sachen Fitness (wie hoch hüpfe ich heute?), sogar was den Haushalt angeht hab ich mir die Hilfe einer Instagramseite namens „ordnungnebenbei“ geholt. Letztere schreibt mir einen Wochenplan mit Aufgaben wie: „Lichtschalter putzen“ oder „eine Badschublade ausmisten“ oder „Winterkleidung verräumen“. Eine super Sache ist das mit diesen Plänen. Endlich sind die kaputten, rosaroten Haarklammern von vor 12 Jahren da, wo sie hingehören – im Mülleimer.

Und so zerteile ich meine Tage in dafür vorgesehene, supereffektive Zeiteinheiten. 20 Minuten hier putzen, 45 Minuten da einkaufen, eine halbe Stunde im Garten, 40 Minuten Sport, 45 Minuten Mittagspause, 60 Minuten Internet (haha, das ist gelogen!), mittwochs bügeln, freitags fernsehen. Das macht unser Haus sauber(er zumindest), den Garten passierbar und meinen Körper definiert.

Wenn dann noch Zeit übrig ist, dann – so der Plan – mache ich das, was ich am besten kann. Würde ich diese Zeit in den Terminplaner eintragen, stünde da „kreativ sein“. Und, was soll ich sagen, das funktioniert ja mal GAR NICHT.

Denn während ich versuche, meine alltägliche Überforderung mit Plänen in den Griff zu kriegen, lässt sich meine kreative, gedankliche Überforderung überhaupt nicht ordnen. Im Gegenteil. Je mehr ich meinen Alltag strukturiere, desto wütender wird das Chaos in meinem Kopf. Ich will alles machen und alles gleichzeitig und alles sofort. Ich will schreiben und töpfern und – oh bitte – Theater spielen! Malen vielleicht noch. Linolschnitt sowieso.

„Und dann auch mal nichts tun und vor sich hinschauen“, soll Astrid Lindgren gesagt haben. Das auch noch. Wann soll ich das denn noch machen? Vor dem Lichtschalter putzen oder danach?

Ich male mir Mindmaps – denn es ist ja nicht so, als würde ich die Kniffe nicht kennen.

Aber auch das bringt keine Zeile aufs Papier und kein Dekor auf meine Keramik. Und so mache ich weiter das, was ich schon immer gemacht habe. Ich wurschtle. Ich wurschtle mich durch. Aber wenigstens mit sauberen Lichtschaltern.