„Schön, dass du mir das jetzt schon sagst!“ Ich versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Oberarm. Ich war nicht überrascht, dass Matthias seiner Mutter unsere Trennung verschwiegen hatte. Meine Eltern hatten ja noch viel weniger Ahnung von dem, was bei ihrer Tochter im vergangenen halben Jahr los gewesen war. Ich hatte aber erwartet, nicht erst bei unserer Ankunft von solchen Nebensächlichkeiten zu erfahren.
„Keine Sekunde zu früh.“, flüsterte Matthias noch, als sich die Türe seines Elternhauses öffnete.
Ich hatte Hannelore Knaup erst zweimal gesehen. Sie hatte ihn im vergangenen Herbst in Regensburg besucht und dann noch einmal Anfang dieses Jahres. Bereits da war mir die ungeheuere Energie aufgefallen, die sie ausstrahlte. Sie war beinahe immer in Bewegung, reihte Aktion an Aktion und schien kaum müde zu werden. Ihr braungebrannter Körper war klein, zierlich und drahtig, wie der Körper einer Frau, die viel Sport an der frischen Luft treibt. Ihre angegrauten Haare waren kurz geschnitten und betonten die schöne Form ihres Kopfes. Doch das lebendigste an ihr waren ihre blauen Augen. Matthias’ Augen. Sie sprühten vor Lebensfreude. Und auch jetzt, in einer für alle Beteiligten nicht gerade idealen Situation, blickten uns diese Augen zuversichtlich entgegen.
„Hallo, ihr Beiden. Na, dann kommt mal rein. Das Essen dauert noch fünf Minuten.“, begrüßte sie uns. Die Art, wie sie Matthias umarmte strafte ihre heraussprudelnde Herzlichkeit jedoch Lügen. Es war nur ein Augenblick, aber diese Umarmung hatte etwas Kaltes und Mechanisches. Ich sah den Tadel in ihren Augen und die Unzufriedenheit mit ihrem Sohn. Doch ich hatte nicht genug Zeit mich zu schämen, für die ganzen Probleme, die meine Schwangerschaft mit sich brachte, denn nur Sekunden später drückte sie mich an sich.
„Schön, dich wieder zu sehen, Klara!“ Kälte und Missbilligung waren ebenso schnell verflogen, wie sie aufgetaucht waren. Mir begegnete sie mit ehrlicher Wärme. „Mach dir keine Sorgen.“, flüsterte sie mir noch ins Ohr und verschwand dann mit vielen Worten in der Küche.
Ich atmete tief durch und bemerkte, dass Matthias dasselbe tat. Er drehte sich zu mir um und streckte lächelnd seine Hand aus. „Ich stell dir mal meinen Vater vor.“
Wir gingen durch ein großes Haus, das den Charme der 80er Jahre trotz aller Bemühungen nicht restlos abschütteln konnte. Die Türen und Fenster waren aus dunklem Holz, den Boden bedeckten beinahe überall Fliesen. Doch man sah den Räumen an, dass laufend viel Arbeit in sie investiert wurde. Nagelneue Küchenmöbel, moderne Bilder, frische Vorhänge. Wie Matthias mir erzählt hatte, konnten sich seine Eltern das ohne Weiteres leisten. Seine Mutter arbeitete als Lehrerin an einer Hauswirtschaftsschule und sein Vater war in Leitender Position bei einem großen Baukonzern. Als ich durch eine große Terrassentür in den weitläufigen Garten trat und Friedrich Knaup zum ersten Mal sah, musste ich unwillkürlich grinsen. Da stand ein zwanzig Jahre älterer Matthias und pflückte Brombeeren. Die gleiche, große Statur, die breiten Schultern, die braune Haut. Das kantige Gesicht umrahmten blonde Haare, die um einiges länger waren, als die seines Sohnes – dennoch genauso blond.
Und auch der kräftige Händedruck seiner rauen, großen Hände kam mir bekannt vor.
„Du bist also Klara. Hm.“, sagte er und wandte sich wieder den Brombeeren zu.
„Auch eine?“, bot er mir an, doch ich lehnte dankend ab.
„Gut so.“, nickte er. „Hanni mag es gar nicht, wenn man kurz vor dem Essen nascht. Auch wenn’s nur Brombeeren sind.“
Und als wäre das ihr Stichwort gewesen, tönte Hannis Stimme aus dem Haus. „Kinder, kommt Essen!“
Es gab Filet mit Kartoffeln und Gemüse. Matthias’ Mutter hatte sich mächtig ins Zeug gelegt und es schmeckte himmlisch. Ich lud meinen Teller gleich noch mal voll und stoppte erst, als ich bemerkte, dass mich Matthias’ Vater belustigt beobachtete. Hannelore – sie hatte mir bereits zwei Minuten nach beginn des Essens das Du angeboten – kam vor lauter Erzählen kaum zum Essen. Die Heldin ihrer Geschichten war stets Martina, Matthias’ jüngere Schwester. Sie studierte, wie ich bald erfuhr, in Weihenstephan Ernährungswissenschaften, hatte einen netten Freund namens Christian und wohnte in einer WG mit zwei anderen Mädchen.
Ein paar Mal schielte ich zu Matthias, der mir gegenüber saß. Er hatte sich ganz auf das Essen auf seinem Teller konzentriert. Genau so, wie sich meine Schüler ganz auf ihr Buch konzentrierten, wenn sie nicht aufgerufen werden wollten. Er war froh, nicht Thema zu sein. Und auch ich hörte mir tausendmal lieber Geschichten über die schwierige Wohnungssuche der armen Martina an, als etwaigen Fragen standhalten zu müssen.
Matthias’ Vater – Fritz – versuchte seine Frau ab und zu leise und halbherzig zu bremsen, vertiefte sich jedoch immer gleich darauf wieder in sein Essen.
Beide vermieden es, meine Schwangerschaft anzusprechen. Nicht einmal mit kleinen Bemerkungen oder Halbsätzen. Obwohl Matthias und ich darauf warteten. Wozu waren wir sonst hergekommen?
„Ja, so ist das.“, seufzte Hannelore abschließend und legte ihr Besteck beiseite. Ich löffelte gerade genüsslich das letzte zerlaufene Vanilleeis mit Brombeersoße aus meiner Schüssel, als sie eine bedeutsame Pause einlegte. Matthias warf mir einen schnellen, unsicheren Blick zu. Das war jetzt also der Moment. Ich wappnete mich innerlich, machte mich gefasst auf bohrende Fragen und Vorwürfe.
„Und, Klara, freust du dich schon auf die Schweiz?“
„Kannst du mir bitte sagen, was das sollte?“ Ich hatte die Autotüre schwungvoll zugeknallt und schrie ihn an, noch ehe er den Wagen startete. Diese Bewerbung in die Schweiz, ich hatte sie verdrängt, hatte gedacht, sie sei längst Geschichte. „Du spielst mir hier die heile Welt vor! Von wegen: Wir stehen das gemeinsam durch…“ ich äffte ihn böse nach „und dann verschwindest du in die Schweiz! War das dein Plan? Hätte ich das noch irgendwann erfahren? Oder wolltest du mich mitnehmen? Deine Mutter zumindest glaubt das!“
Matthias sah stur geradeaus und lenkte das Auto auf die Straße. „Vielleicht hat sie ja Recht. Vielleicht wäre das echt nicht das Schlechteste für uns.“, versuchte er. Doch ich fuhr ihm über den Mund.
„Wieso? Nur weil du dann zwei Jahre mächtig Kohle machst bei diesem Stararchitekten? Und was soll ich tun in der Zwischenzeit? Däumchen drehen?“
„Auf ein Kind aufpassen, vielleicht!“ Auch Matthias war gereizt. Er war in Sachen Schweiz seiner Mutter geschickt ausgewichen, hatte die Situation mit vielen „vielleicht“ und „mal sehen“ entschärft, war aber dennoch mitgenommen von dem harten Frage-Antwort-Spiel, das seine Eltern inszeniert hatten.
„Ich weiß, dass ich schwanger bin!“, motzte ich zurück „Du brauchst mich nicht extra dran erinnern, danke!“
„Dann versteh’ ich nicht, wo dein Problem liegt.“
„Wo mein Problem liegt?“, ich war echt fassungslos. „Ich erfahre – nicht aus deinem Mund, nein, aus dem deiner Mutter – dass du planst abzuhauen. Mit mir – aber ohne mich zu fragen. Wie soll das laufen? Willst du mich dahin verschleppen? Und dann? Friede, Freude, Eierkuchen? Job, Kind, Hochzeit?“
Ich wandte den Blick ab, starrte auf die Landstraße vor uns.
„Was wäre denn so schlimm an Friede, Freude, Eierkuchen?“
Er verstand es wirklich nicht. „Ja, komm schon, lass uns heiraten!“, ätzte ich.
„Ja, komm schon!“, schrie er zurück. „Ich weiß nicht, was so schrecklich ist an der Schweiz. Gut, ich hätt’s dir früher sagen müssen. Aber es ist doch eh noch nichts endgültig entschieden. Der Job ist eine einmalige Chance für mich. Ich würd’n Haufen Geld machen. Und du? Statt dich zu freuen bockst du, wie eine Fünfjährige. Krieg deine Hormone wieder unter Kontrolle, verdammt!“
„Arschloch!“ Ich rang nach Luft. Wir fuhren auf die Autobahn. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Aber die Luft brannte noch. Wir waren noch nicht fertig. Meine Stimme bebte, als ich weitersprach. „Ich hab hier Freunde, ich hab hier einen Job.“ Matthias lächelte böse, doch ich ließ mich nicht beirren. „Ich hab hier Familie. Ich möchte nicht in die Schweiz. Du hast das gewusst und trotzdem…“ ach, es war alles Mist. Wütend bekämpfte ich die aufsteigenden Tränen. „Du knallst mir hier einfach so deine Pläne vor die Nase. Pläne, die auch über meine Zukunft entscheiden. Und ich soll die einfach abnicken? Du drängst mich hier in was rein, das ich nicht will…“
„Ach ja?“, unterbrach er mich ruppig. „Wer drängt hier wen zu was? Hast du gefragt, was ich über dieses Kind denke? Hat meine Meinung wirklich gezählt?“ Hart knallten seine Wut und seine Verzweiflung gegen mich. „Nein, Klara. Ich bin nicht der Böse. Und ich werde mir von dir nicht alles versauen lassen.“
Ich zog scharf die Luft ein, erwiderte jedoch nichts. Zu weh hatten seine Worte getan. Ich fühlte mich ausgestoßen, schlecht, wie ein lästiger Parasit. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, biss die Zähne zusammen und schaffte es den ganzen Weg nach Hause nicht zu heulen.
Den restlichen Tag und den darauf Folgenden sprachen wir kein Wort. Wir litten beide. Ich schwankte zwischen Gefühlen, die so heftig und gegensätzlich waren, dass es mich schier zerriss. Da war diese Panik, dieses Kind vielleicht alleine großziehen zu müssen. Da war aber auch dieser große Unwillen, Freunde und Familie zu verlassen. Und da war dieses schlechte Gefühl, Matthias zu etwas gedrängt zu haben. Würde er dieses Kind je lieben können, wenn er es doch nicht gewollt hatte? Das war die größte Angst von allen.
Am dritten Tag erwachte ich, als er meine Schulter küsste und sein Atem über meinen Nacken strich. „Klara, aufwachen.“, flüsterte er. „Ich muss mit dir reden.“
Hätte mich der Schlaf nicht noch so fest gehalten, ich hätte ihn vermutlich von mir gestoßen und hätte ihn angemault. Aber es kostete mich doch einige Mühe, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen. Es war noch zu früh. Noch nicht einmal fünf Uhr, verriet der Blick auf den Wecker. Ich hatte noch keine Kraft zu maulen.
Auch seine Augen waren müde aber der Rest seiner Miene verriet Tatendrang. Warum war er schon so früh wach? Und warum musste er unbedingt jetzt mit mir reden?
„Ich konnte nicht schlafen.“, sagte er. „Mir ist zuviel im Kopf rumgegangen.“
Er machte eine kleine Pause, überlegte die Formulierung und sagte dann schlicht: „Wir bleiben hier. Ich gehe nicht in die Schweiz.“
Mit einem Schlag war ich hellwach. „Was? Wieso? Ich meine, wieso hast du deine Meinung geändert.“, brachte ich schließlich heraus.
„Ich will nicht dahin. Wenn ich’s mir recht überlege, wollte ich eigentlich nie so richtig. Mein Job hier ist große Klasse und den möchte ich nicht aufgeben müssen. Und vor allem, wenn du nicht willst, dann kann ich das auch nicht einfach so über deinen Kopf hinweg entscheiden.“
„Und das Geld? Der Stararchitekt?“ Ich musste mich räuspern, meine Stimme versagte. Das hier war unglaublich.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich verdien’ auch hier genug – genug für drei.“ Er lächelte und ich fühlte, wie eine Welle des Glücks mich erfasste. Heftig und dankbar küsste ich ihn. Er erwiderte meinen Kuss, umfasste mich unter der Decke und drückte seinen warmen Körper an meinen. „Ich weiß nicht, vielleicht finden wir ja eine schöne gemeinsame Wohnung mit ein bisschen Grün. Was meinst du? Und dann: Friede, Freude, Eierkuchen?“
Ich konnte nicht antworten. Freude füllte mich von oben bis unten und verschlug mir die Sprache. Stattdessen nickte ich einfach so intensiv ich konnte, umarmte ihn und schenkte ihm unendlich viele Küsse.
„Das sollten wir feiern, meinst du nicht?“, flüsterte er noch, bevor er seine Lippen über meine Brüste gleiten ließ und seine Hand zwischen meine Schenkel wanderte. Ich stöhnte auf. Wenn ich schon nicht sprechen oder nicken konnte – das würde als Antwort ausreichen.
Der Plan war, in der Eisdiele an der Ecke zwei große Portionen Spaghettieis zu holen. Wir waren uns nur noch nicht einig, wer von uns losgehen sollte. Schließlich besiegte Matthias meinen Ich-bin-so-ein-armes-schwaches-Frauchen-dass-unmöglich-zwei-Bescher-Eis-tragen-kann-Blick mit einem durchaus überzeugenden: „Wenn du gehst, bleib ich hier und mach den Abwasch.“
Ich stellte mich auf Zehenspitzen, küsste ihn schnell und verschwand im Flur. In der Küche lief bereits das Spülwasser.
„Weißt du wo ich meine Flip-Flops hingeworfen habe?“, fragte ich nach gefühlten zehn Minuten Sucherei in einem unübersichtlichen Schuhberg.
Da klingelte es. Ohne darüber nachzudenken, drehte ich den Schlüssel im Schloss und öffnete. Es war Cordula. Zu spät wurde mir bewusst, dass sie von Matthias und mir keine Ahnung hatte – und auch eigentlich keine haben sollte. Doch Cordula stand bereits in meiner Wohnung.
„Ich wollte nur mal sehen, ob du überhaupt noch lebst.“, begann sie. „Karin hat schon vermutet, dass sie dich vielleicht irgendwohin versetzt haben und du gerade auf Wohnungssuche bist, aber ich habe gesagt, dass du uns das bestimmt erzählt hättest. Gut dass ich recht hatte. Und gut, dass du noch lebst.“
„Ähm, Cordula…“, setzte ich an, doch mein Kopf war so sehr damit beschäftigt eine passable Erklärung für den Mann in meiner Wohnung zu finden, dass er sich noch nicht ums sprechen kümmern konnte. Egal, denn Cordula schien mich gar nicht zu hören.
„Also, du treulose Tomate! Ich dachte, ich komm mal vorbei und wir gehen auf ein…“
In der Küche schepperte eine Pfanne und Cordula stockte.
„Oh, du hast Besuch.“, flüsterte sie deutlich langsamer.
„Ja, habe ich.“ Ich drehte meinen Kopf zur Küchentür und stellte fest, dass sie offen stand. Warum hatte Matthias sie nicht geschlossen, als es geklingelt hatte? Jetzt konnte Cordula die Hälfte der Küche einsehen und würde ihn bestimmt erkennen – auch von hinten.
„Ui, ein Mann?“, wisperte sie aufgeregt, als sie meine Verlegenheit bemerkte. „Wer denn? Kenn ich ihn?“
Ich wollte gerade den Kopf schütteln, als Matthias durch die Küchentür trat. „Hallo, schön dich zu sehen.“ Er lächelte gewinnend und verschwand wieder. Dieser Idiot. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und als ich die Augen wieder aufschlug, stellte ich fest, dass Cordula immer noch mit offenem Mund auf meine Küchentür starrte.
„Matthias?“, brachte sie schließlich heraus. Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Sie wirkte sie, als hätte sie einen Geist gesehen. „Seid ihr wieder…?“
Ich nickte.
„Oh.“ Sie brauchte eine Weile, um die Information zu fassen. „Seit wann denn?“ Ihr Blick war immer noch auf die Küche gerichtet, ihre Miene immer noch verwirrt.
„Schon eine Weile.“, erklärte ich vage. „Ich wollte es dir ja sagen“, log ich „aber es war nie die Gelegenheit, irgendwie.“
Cordula nickte. Sie war enttäuscht. Viel zu lange hatte ich mich bei ihr nicht gemeldet, hatte ihr eine wichtige Sache vorenthalten und versuchte mich jetzt mit einer dürftigen Ausrede aus der Affäre zu ziehen. Ich fühlte mich schlecht und wagte es kaum, mir vorzustellen, wie enttäuscht Cordula und Karin sein würden, wenn ich ihnen die ganze Wahrheit erzählte.
„Ich dachte, er ist’n Arsch…“ Cordula schüttelte den Kopf.
„Ist er auch – nein, ist er nicht mehr.“, berichtigte ich mich. „Cordula, ich weiß, es ist total blöd von mir und es tut mir echt leid, dass ich nicht schon eher was gesagt habe. Ich erzähl dir die ganze Geschichte, ganz bald, fest versprochen! Nur nicht jetzt, ja? Karin, du und ich, wir treffen uns demnächst mal auf einen Kaffee und dann bekommst du alle Infos, ja? Bitte.“
Cordula nickte wieder. „Den Hauptteil weiß ich jetzt ja schon.“
Oh, wenn sie wirklich wüsste…
„Dann will ich das junge Glück nicht länger stören.“ Jetzt lächelte sie beinahe schon wieder.
„Cordula?“
„Ja?“
„Verrat Karin bitte noch nichts. Ich möchte es ihr selber sagen, okay?“
Cordula zog die Augenbrauen hoch. „Wenn du meinst.“ Dann hob sie die Stimme: „Tschüß Matthias!“
„Tschüss!“, drang es durch die Küchentür zurück.
Von der gefrorenen Sahne am Grund meines Eisbechers war mir schon fast übel. Trotzdem konnte ich einfach nicht aufhören. Es war zu lecker.
„Es geht doch nichts über Spaghettieis mit massenhaft gefrorener Sahne untendrunter.“, schwärmte Matthias, als hätte er meine Gedanken erraten. „Aber es gibt noch etwas, das noch viel viel besser schmecken würde…“ Sein Blick forderte mich heraus.
„Was denn?“
„Spaghettieis mit massenhaft gefrorener Sahne untendrunter, VOR DER EISDIELE gegessen.“
Und als ich nicht antwortete fügte er hinzu: „Ach komm schon, Klara! Fällt dir hier drinnen nicht langsam die Decke auf den Kopf?“
„Eigentlich nicht.“, antwortete ich wahrheitsgemäß und schlürfte den letzten Rest Eis aus dem Becher. Ich mochte es so, wie es war. Keine Erklärungen, keine unangenehmen Fragen – nur Matthias und ich in unserer kleinen, kuscheligen Einöde mitten in der Stadt. Außerdem war ich ohnehin dauernd müde und verschlief beinahe den halben Tag. Nein, mir fiel die Decke noch lange nicht auf den Kopf.
„Bitte, Klara, dann wenigstens mir zuliebe.“, bettelte er.
Ich schüttelte verständnislos den Kopf: „Dann geh doch alleine raus, meinetwegen.“ Dafür brauchte er mich nun wirklich nicht.
„Darum geht es doch nicht.“
„Worum geht es denn dann?“
„Um dich und mich.“
„Gibt es ein dich und mich?“
„Mittlerweile doch, glaube ich. Und mir geht diese Heimlichtuerei so dermaßen auf den Sack!“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Das sagst ausgerechnet du? Noch vor ein paar Wochen konnte es dir gar nicht heimlich genug sein.“
„Das hat sich geändert. Es hat sich alles verändert.“, erwiderte er ernst und legte seinen Eislöffel beiseite, als wollte er die Bedeutung seiner Worte noch extra betonen.
„Nicht die da draußen.“ Auch ich war jetzt nicht mehr zu Scherzen aufgelegt. „Nicht Karin, nicht Cordula, nicht Mike, Stefan und schon gar nicht Tobias.“
„Na und?“
„Na und?!“
„Cordula weiß es doch schon und Karin wird es sicher auch ohne unser Zutun bald wissen. Und die Jungs sind nun wirklich kein Problem.“
„Auch nicht Tobias?“ Ich musterte ihn genau, sah wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. Er schaute mich nicht an sondern richtete seinen Blick stattdessen auf seinen leeren Eisbecher, als würde er auf dessen Pappboden die Antwort finden. „Wir sind Tobi gar nichts schuldig. Auch keine Erklärung. Du nicht und ich auch nicht.“ Er tat mir leid, wie er da saß. Voller Bitterkeit über eine verlorene Freundschaft. Doch er fasste sich schnell wieder und blickte auf. „Was ist denn eigentlich so schlimm daran, wenn sie erfahren, dass wir wieder zusammen sind? Ich bin mir sicher, dass sie das nicht einmal besonders interessieren wird – die Jungs zumindest nicht. Und überhaupt: Je eher wir es offiziell machen, desto weniger blöde Fragen werden dann später wegen des Babys kommen.“
Das war ein Argument. Das war sogar ein ziemlich gutes Argument. Aber ich verzog immer noch missbilligend das Gesicht. Matthias stand auf, kam zu mir rüber, stellte sich hinter mich und begann mir den Nacken zu massieren. Seine großen, kräftigen Hände erwärmten meine Haut.
„Ich weiß nicht, ob ich das schon kann.“, versuchte ich mich zu rechtfertigen, doch genau wie meine Nackenmuskeln lockerte sich auch meine Widerstand.
„Bitte.“, flüsterte er in mein Ohr. Ein wohliger Schauer jagte mir über den Körper. Ich atmete schneller.
„Nein.“, maulte ich – nur noch pro forma. Er hatte mich schon in der Tasche.
„Bittebitte.“ Seine Lippen berührten meinen Hals wie Schmetterlingsflügel.
Ich schloss die Augen. „Ohohokay…“
„Wie schön!“, lachte er, stoppte prompt die Massage und gab mir einen abschließenden dicken Kuss auf den Scheitel. „Dann kannst du ja morgen mit mir auf Stefans Party kommen.“