In Ordnung – Kapitel 12

Armins Wohnung war wirklich riesig. Er teilte sie mit Franziska, einer Sozialpädagogin und Tim, einem Statiker. Doch die beiden waren schon lange im Gewühl verschwunden. In der Küche war kaum mehr ein Durchkommen und auch im Wohnzimmer waren alle Plätze besetzt. Armin hatte zur „Schools-out-Party“ geladen und seine Mitbewohner hatten sich ebenfalls nicht zurückgehalten, das auch in ihrem Bekanntenkreis durchzugeben. Ich kannte nur Wenige. Jetzt, wo es streng auf Mitternacht zuging waren gut zwei Drittel der Gäste bereits stark angetrunken. Armin mixte Cocktails und Tim schleppte eine Bierkiste nach der anderen aus dem Keller nach oben. Wenn ich mich so umsah, war ich wohl die einzige, die sich mit Wasser und Saft zufrieden gab. Es war eine seltsame Art von schlechtem Gewissen, das mich davon abhielt, mir ein Bier aufzumachen.
„Kommst du mit raus?“, lallte mir Kai viel zu laut ins Ohr und legte den Arm um meine Schulter. Es war mehr ein Abstützen. „Paul hat was zu Rauchen dabei. Haste Lust?“
„Geht ihr mal schön alleine.“, antwortete ich und schob ihm seinen Arm zurück.
„Ach komm schon. Sind grad gar nicht viele Leute aufm Balkon.“, versuchte er es weiter.
„Klar.“, ich lächelte gequält. „Da quetschen sich so Viele, dass das langsam echt lebensgefährlich wird! Der kracht gleich runter! Nein, keinen Bock. Wirklich nicht.“
Kai zog eine Schnute. „Wass’n heute mit dir los? Kein Alkohol, kein Dope und ein Gesicht, als hätten sie deine Katze überfahren. Mann, Klara! Es sind Ferien! Keine Schule mehr! Deine ersten Sommerferien als fertige Lehrerin! Komm schon, stell dich nicht so an! Und wegen Runterkrachen und so: Hier sind so viele Statiker – ich glaub’ die können das abschätzen.“ Er grinste breit, packte mich bei den Schultern und schob mich vom Gang in die Küche. Immer Richtung Balkon.
Und wieder löste ich mich aus seinem Griff. „Nein, wirklich. Geht alleine!“ Ich sah ihm drohend in die Augen und sprach wie zu einem Schwerhörigen.
„Schaut mal! Neue Gäste!“, rief Tim, als er schwer bepackt mit einer neuen Kiste Bier die Küche betrat. Hinter ihm Stefan und – Matthias.
Etwas Schweres sackte in meinen Magen, mein Herz machte einen Satz, ich taumelte auf weichen Knien. Mein Glas entglitt mir und zerbarst scheppernd auf dem Küchenboden.
„Echt, Klara!“, nörgelte Kai an meiner Seite viel zu laut und ich hätte ihm am liebsten den Mund zugehalten. Zu spät. Matthias’ Blick traf meinen. Ich erstarrte. Wie ein gehetztes Tier suchte ich nach einem Ausweg. Und als Matthias sich durch das Gedränge auf mich zubewegte, machte ich das, was alle gehetzten Tiere machten – ich floh. Ohne eine Erklärung quetschte ich mich an Kai vorbei, durch das Gedrängel zur Garderobe. Wo war nur meine Tasche? Endlich – nach hektischem Wühlen in einem Berg von Schuhen und Klamotten, tauchte die orangerote Ecke meiner Tasche auf. Ich Griff danach und stürmte zum Ausgang. Im Treppenhaus – ich war schon so gut wie auf der Straße – hörte ich Matthias nach mir rufen. Ich hielt nicht an, rannte in meinen unbequemen Sandalen so schnell ich konnte. An der Straßenecke riss ich sie mir von den Füßen und stolperte fast. Ich konnte hören, dass Matthias mir folgte.
„Klara, warte!“, rief er mir nach. Er kam näher. Ein stechender Schmerz bohrte sich in meinen Fuß. Ich schrie auf, bremste abrupt, hüpfte auf dem anderen Fuß einige Meter, bevor ich zum Stehen kam. Ich biss mir auf die Lippen und lehnte mich gegen die Steinmauer, die den Bürgersteig vom Park trennte.
„Klara, was ist denn los?“ Matthias hatte mich eingeholt.
„Aua!“, winselte ich und zog meinen Fuß zu mir heran, um zu sehen, was in seiner Sohle steckte. Doch im matten Schein der Straßenlaternen war nichts zu erkennen.
„Hast du dir was eingetreten? Lass mal sehen.“ Matthias griff nach meinem Fuß.
Erschreckt von so viel Selbstverständlichkeit schubste ich ihn weg und fauchte: „Lass das! Man kann nichts sehen.“
Entschuldigend hob er beide Hände. „Dann eben nicht. Komm ich bring dich nach Hause.“
Wieder fuhr mir die Angst in alle Glieder. „Nein!“, schrie ich.
Überrascht von meiner heftigen Reaktion hob er fragend die Augenbrauen. Dann schüttelte er den Kopf. „Klara, du kommst nicht weit mit dem Fuß und ohne Hilfe. Jetzt stell dich nicht so an.“
„Nein.“, entgegnete ich noch einmal trotzig und humpelte los. Der Schmerz war auszuhalten, doch ich war langsam und es war anstrengend, den verletzten Fuß ständig in verkrampfter Schräglage zu halten. Ich kam mir blöd vor. Keine drei Meter später spürte ich, wie Matthias’ Arm sich unter meine Armbeuge schob und mich ein klein wenig stützend hochhob.
Wieder schüttelte er den Kopf. „Du spinnst total.“
Ich konnte nichts erwidern. Klar, er musste mich für total durchgeknallt halten, überlegte ich, als er mich nach Hause schob. Ich war vor ihm weggerannt, hatte ihn geschubst und angeschrieen. Und auch jetzt war der Drang wegzulaufen stärker als alles Andere. Doch ich wusste, ich würde nicht weit kommen. Vorausgesetzt ich konnte mich seinem Griff entziehen. Und der ließ keinen Widerspruch mehr zu. In meinem Kopf tobte ein heftiger panischer Sturm. Matthias würde eine Erklärung verlangen. Was würde ich ihm sagen? Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte nicht!
Ich wusste nicht, ob er mich ansah, denn ich hatte den Kopf abgewandt. Ich hatte Angst, er könnte es mir vom Gesicht ablesen – selbst hier in den dunklen Gassen der Stadt. Wir gingen schweigend. Fieberhaft überlegte ich, wie ich ihn wohl abwimmeln könnte, wie ich seinen Fragen und seinem Blick ausweichen könnte. Seit Tagen hatte ich mir Ausreden einfallen lassen, um ihn von mir fern zu halten, hatte ihn am Telefon abgewürgt, seine Nachrichten ignoriert. Doch jetzt war ich ihm ausgeliefert. Und er würde mich auf mein seltsames Verhalten ansprechen.
„Danke, von hier ab schaff’ ich’s allein nach oben.“, versuchte ich es noch einmal. Ich wusste, es klang lächerlich. Hatte er mich doch den ganzen Weg eher getragen, als gestützt. Und wie erwartet bekam ich als Antwort nur ein Lächeln. Matthias verstärkte seinen Griff sogar, als er mir die Treppen zu meiner Wohnung hinauf half.
Er setzte mich aufs Sofa und ich betete so inständig wie hoffnungslos, er würde mich jetzt ohne weitere Worte in Ruhe lassen.
„Pinzette?“
„Was?“, antwortete ich erschrocken. Er hatte mich aus meinen Überlegungen gerissen.
„Pinzette?“ Wiederholte er.
„Irgendwo im Bad.“
Matthias stand auf.
„Aber das kann ich auch machen! Es ist echt nicht so wild.“, rief ich ihm hinterher.
Doch Matthias ließ sich nicht beirren. Trainierte er hier für einen Samariterorden?
Er knipste die Leselampe an, die hinter dem Sofa stand, richtete den Lichtkegel auf meinen lädierten Fuß, kniete sich vor mir auf den Boden und begann meine Verletzung zu untersuchen. Er konzentrierte sich, kniff die Augen zusammen, drehte meinen Fuß im Licht und stieß schließlich ein beinahe triumphales „Da haben wir’s ja!“ aus.
„Was?“, wollte ich wissen. Für einen Moment war ich ebenso gebannt wie er.
„Du hast dir tatsächlich was eingetreten. Man sieht’s von außen kaum. Und es ist kein Glas.“ Er sprach langsam, den Blick immer noch auf meine Fußsohle gerichtet. Dann griff er nach der Pinzette.
„Au!“, schrie ich, als es schmerzte und entriss ihm meinen Fuß.
Matthias lachte und hielt die Pinzette in die Luft. Ein zwei Zentimeter langer Dorn klemmte zwischen den Metallenden. „Wow!“, brachte ich nur heraus.
Matthias stand auf, ging wieder in mein Bad und kam mit meinem halben Pflastervorrat zurück. „Nur, bis es aufhört zu bluten.“, sagte er und verklebte die winzige Stelle, an der sich der Dorn in meinen Fuß gebohrt hatte.
„Dämliche Schuhe!“, schimpfte ich, weil ich auf irgendetwas schimpfen wollte und vielleicht auch, weil ich ahnte, dass meine Schonzeit jetzt verstrichen war.
„Warum bist du überhaupt weggelaufen?“, Matthias‘ Frage klang beiläufig, doch er suchte meinen Blick. Ich starrte auf meine Knie, hatte nichts zu antworten. Seine warmen Hände hielten immer noch meinen Fuß umfasst.
„Klara, bitte sag mir was mit dir los ist.“ Seine Stimme war sanft, beinahe, als wollte er mich beruhigen. „Du wimmelst mich seit Tagen mit dämlichen Ausreden ab. Du kommst nicht in die Wunderbar, du reagierst nicht auf Anrufe. Und wenn ich dir zufällig übern Weg laufe, haust du ab! Ich hatte gedacht, jetzt endlich wäre alles gut zwischen uns…“
Mein Kopf war leer. Wie von selbst öffneten sich meine Lippen.
„Ich bin schwanger.“ Es war nur ein Flüstern.

Mir war als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht bewegt, als hätten wir vor Jahrhunderten zum letzten Mal gesprochen. Die Stille zwischen uns war erfüllt von meiner Angst. Er hatte die Lider gesenkt, starrte auf einen Punkt irgendwo neben meinem Knie. Ich registrierte es aus den Augenwinkeln, denn ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Vorsichtig, wie um ihn nicht zu stören, entzog ich meinen verletzten Fuß seiner erstarrten Hand. Er ließ die Hand auf seine Knie sinken, bewegte sich aber nicht weiter. Stattdessen begann er zu sprechen.
„Bist du sicher?“ Seine Stimme war leise, vorsichtig. Als ob er nicht wusste, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
„Ich war beim Arzt.“ Die Worte kratzten in meinem Hals. Ich musste mich räuspern.
„Verdammte Scheiße!“ Ich wusste, er hatte recht. Es war eine verdammte Scheiße. Und doch schnitten seine Worte Kerben in mein Herz. Ich versuchte mich zusammenzureißen. Was war nur mit mir los? Was hatte ich denn erwartet?
„Wie…?“, setzte er an und seine Stimme war jetzt voller Vorwurf „Ich meine, du nimmst doch die Pille, oder?“
Es war mir klar gewesen, dass diese Frage kommen würde. „Mit Unterbrechungen.“, versuchte ich zu erklären.
Jetzt sah er mir direkt ins Gesicht. Seine Augen glitzerten vor Wut und Verzweiflung. „Soll das heißen, du hast geschlampt?“
Wie aus dem Nichts durchflutete mich eine Welle der Empörung. Von oben bis unten durchdrang sie mich, machte meine Muskeln hart und meinen Brustkorb eng. Er war so verdammt scheißselbstgerecht! „Geschlampt? GESCHLAMPT!“, keifte ich. „Ja, da machst du’s dir schön einfach, nicht wahr! Die Frau kümmert sich schon drum und du kannst auf sie raufsteigen wann immer und wo immer es dir passt! Hast du gefragt? Hätte das etwas geändert? Als hättest du deinen Schwanz wieder aus mir rausgezogen, hier, auf dem Fußboden, vor drei Wochen!“
Ich schleuderte ihm die Worte ins Gesicht sah, wie sie in seinen Kopf drangen und er sich erinnerte. Ich ahnte welche Bilder sich vor seinem inneren Auge abspulten: Seine Hand als sie in mein Gesicht schlug, sein Körper auf meinem, mein Stöhnen, als ich mich über ihm aufbäumte.
Erwartungsvoll lehnte ich mich auf dem Sofa zurück. Es war definitiv eine Entschuldigung fällig. Stattdessen war das, was er dann sagte, wie eine schallende Ohrfeige.
„Drei Wochen.“ Sein Blick bohrte sich in meinen. „Dann könnte es also genauso gut von Tobi sein.“
Auch damit hatte ich rechnen müssen. Und doch zitterte ich, als ich antwortete. „Nein, Tobi war in der Lage nach Kondomen zu fragen.“
Ich sah förmlich, wie die Vorstellung von Tobias und mir, nackt ineinander verschlungen, in seinem Kopf Gestalt annahm. Er litt und es war mir recht so. Zu gerne hätte ich das Messer noch ein paar Mal herumgedreht. Doch er setzte einen Haken dahinter, nickte kurz und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete war sein Blick härter als je zuvor.
„Mach’s weg.“
Jetzt war es an ihm, das Messer herumzudrehen und mein Herz in Stücke zu reißen. Vor Schmerz schossen mir Tränen in die Augen. Ich schnappte nach Luft, ballte meine Hände zu Fäusten. Und irgendwo aus meinem Inneren stieg eine Wut auf, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Eine schützende, verteidigende Wut. Sie setzte mich in Flammen.
„Verpiss dich.“, zischte ich ihm entgegen. „Hau ab!“ Und als er sich nicht bewegte, begannen meine Fäuste auf ihn einzuschlagen. „Du verdammtes Arschloch! HAU AB!“
Matthias floh, knallte die Tür hinter sich zu und überließ mich meinen Tränen.

from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: schwarz, ganz schwarz
Do 30 Jul 2005 2:21

sieht wohl so aus, als müsste ich da alleine durch. matthias weiß es jetzt. er hat gesagt, ich soll’s wegmachen. ich hab ihn rausgeschmissen – wieder einmal. und dabei weiß ich doch selbst nicht genau, was ich tun soll.
ich sitz nur hier und heule. wie eigentlich dauernd. denkst du, das sind die hormone? (WOAH, das klingt so ätzend!)
ich glaub’ ich muss es noch jemandem anders sagen… jemandem der HIER ist. nicht gleich sauer werden, bitte! aber… ich brauch jetzt einfach jemanden, der mich drückt und mir sagt, dass alles schon werden wird. und mit dem drücken per satellit wird’s schwer für dich, oder?
andererseits habe ich auch keinen bock diese sache zwischen matthias und mir zu erklären. weder karin noch cordula. und eine von beiden müsste es ja dann sein. vielleicht könnte ich matthias ja ganz raus lassen aus meiner geschichte und alles auf den großen unbekannten schieben. nein, ich weiß, sie hätten beide die wahrheit verdient.
weißt du eigentlich wie dämlich das grade ist, was ich schreibe? ich meine: cordula und karin – sie werden’s in ein paar monaten sowieso sehen! (ich werde fett werden!!! )
es sei denn, ich höre auf matthias…
oder ich laufe weg und sag keinem ein wort.

klara
4.345,87 € H. Ich war gut im Plus. Mit einem Schnauben steckte ich den Kontoauszug in meine Tasche. Für ein Leben alleine war das ziemlich gut. Aber mit Baby? Ich probierte das Wort aus, sprach es, schluckte es, flüsterte, lächelte, schimpfte es. Baby. Und wieder reichte meine Vorstellungskraft nicht aus. Ich war keine Mama, ich würde nie eine sein können. Und dieses Kind in mir… ich wich einer Traube von Kinderwägen aus, die von schwatzenden Frauen mit Kurzhaarfrisuren geschoben wurden. „…ob ich die Chantal taufen lassen soll… „, schnappte ich im Vorbeigehen auf „… schließlich sind wir jetzt nicht soooo katholisch…“. Ich beschleunigte meine Schritte. Müttergruppen – sinnloses Getratsche über Windelinhalt und Babybrei. In diesem Moment gab es nichts auf der Welt, was mich mehr abstieß. Waren Müttergruppen etwas, dem man sich freiwillig anschloss, oder hatte man keine andere Wahl? Aus der Eisdiele am Eck schlurfte eine Schwangere. Drei Kugeln im Becher, eine große vorne dran. Die dicken, schwabbeligen Arme, die aus dem ärmellosen apfelgrünen Top hervorquollen und die aufgedunsenen Knöchel, die die Dreiviertelhose entblößte, ließen mir Panikschauer über den Rücken jagen. Nur schnell weg. Am Bismarckplatz dann die Nächste. Nein zwei, nein, drei. Ich drehte den Kopf weg. War heute der Tag der Schwangeren? Vom Zeitungsständer leuchtete das Titelblatt eines Boulevardmagazins: „Angeline Jolie: Zwillinge!“ Auch das noch. Meine Hände waren schweißnass, ein Kloß steckte in meinem Hals. Nein, nicht schon wieder heulen! Ich begann zu laufen, bog in die schattigen Seitengassen und erreichte endlich mein zu Hause. Im Hauseingang blieb ich stehen und atmete tief durch. Hier war Schatten und die Wahrscheinlichkeit war groß, keine weiteren Schwangeren zu sehen. In meinem Briefkasten lag ein Brief vom Kultusministerium. Ich widerstand dem ersten Impuls ihn zu öffnen und steckte den Umschlag stattdessen ein. „Wozu?“, flüsterte ich, als ich die Treppen hoch stieg.

Ich war so müde und dieser Film war so traurig. Tränen liefen in Strömen über meine Wangen und ich drückte mich noch ein wenig fester an das Kissen in meinem Arm. Gleich, nur noch wenige Minuten, dann würde ich einschlafen.
Das Schellen der Türklingel riss mich aus meiner eingelullten Gefühlsduselei. Wer konnte das noch sein? Um diese Uhrzeit? Eigentlich jeder, berichtigte ich mich, als ich einen Blick auf die Uhr warf. Es war gerade mal halb acht. Draußen, hinter meinen Jalousien musste es noch hell sein. Mühsam erhob ich mich von der Couch, wischte den letzten Rest Tränen aus meinem Gesicht, schüttelte so gut es ging die Müdigkeit ab und öffnete.
„Ist es wahr? Du bist schwanger?“, fragte Tobias und drängte sich an mir vorbei in die Wohnung.
Völlig überrumpelt nickte ich. Nur langsam legte sich die Verwirrung und ich registrierte – mit einem plötzlichen Gefühl der Scham – was passiert sein musste.
„Matthias hat es dir gesagt.“, stellte ich fest und merkte, wie Ärger in mir aufstieg. Was sollte das? Wieso musste Matthias mich so bloß stellen?
Tobias‘ Blick wich meinem aus. Er wirkte gehetzt. „Ich will nur sicher gehen, dass er nicht gelogen hat. Ich will es von dir selbst hören.“
Er blickte mich herausfordernd an. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Was wollte er denn noch? Hatte ich nicht gerade alles bestätigt? Nein, ich hatte nicht die Absicht eine Beichte abzulegen, nur um seine Neugier zu befriedigen. Doch Tobias überging meine ablehnenden Signale. Er trat auf mich zu, hielt mich an den Schultern und ich sah, wie Unsicherheit und Angst sein Gesicht überzogen.
„Klara, bitte, ich muss es wissen. Matthias hat gesagt es wäre vor drei Wochen passiert. Ich weiß, wir haben uns geschützt… aber ich muss es aus deinem Mund hören! Bitte!“
„Es ist nicht von dir.“, sagte ich tonlos aber bestimmt. Und plötzlich wünschte ich mir, es wäre anders. Ich wünschte mir, es wäre sein Kind in meinem Bauch. Die Chance, dass er anders reagieren würde als Matthias wäre gering – aber sie wäre da. Doch es war nun mal nicht sein Kind.
Tobias atmete erleichtert auf. Er war aus dem Schneider. Seine Hände umfassten jedoch immer noch meine Schultern und seine Stimme wackelte, als er weitersprach. „Er hat dich nicht in Ruhe lassen können, oder? Matthias sagt, es wäre nur einmal gewesen, nachdem wir… du und ich… nach dieser Nacht. Er lügt doch, oder? Ich meine, wir haben darüber geredet und er hat mir VERSPROCHEN… er hat gesagt, er lässt die Finger von dir… er hat es versprochen…“
Wütend riss ich mich von ihm los. Ich hatte jetzt endgültig die Nase voll. „Weißt du“, presste ich hervor „warum verpisst du dich nicht einfach und klärst das mit ihm? Euer dämliches Gegockel geht mich wirklich gar nichts an! Es interessiert mich auch nicht! Alles woran ihr denken könnt ist, wie ihr euch jetzt am besten aus der Verantwortung stehlen könnt!“ Ich spürte das Schluchzen in meine Hals. Nicht jetzt! Nicht jetzt! Ich atmete tief ein, unterdrückte die Tränen und zwang mich, Tobias anzusehen. Mein Zorn hatte ihn sichtlich überrascht. „Warum bist du hergekommen? Doch nur um deinen Arsch aus der Schusslinie zu ziehen. Es ging dir nur um dich!“ Ich lachte ein bitteres Lachen. „Du bist genau so ein Idiot wie dein Freund. Du bist keinen Deut besser. Ihr denkt doch beide nur an euch! Ich bin euch scheißegal.“ Gegen meinen Willen strömten Tränen aus meinen Augen. Schnell wischte ich sie weg und schrie in sein Gesicht. „Verpiss dich! Komm schon, hau ab! Ich hab genug mit mir selber zu tun. Ich kann mich nicht auch noch mit eurem Kram beschäftigen! Los geh!“
Wortlos und geschlagen drehte sich Tobias um und ging zur Tür. Ich schluchzte leise, den Blick auf seinen Rücken gerichtet. Die Sehnsucht nach Trost, nach schützenden Armen war übermächtig und ich flehte innerlich, er würde nicht auf mich hören, er würde jetzt nicht gehen. Nicht auch noch er.
Mit einem Mal war er wieder da, umarmte mich und drückte mich an seine Brust. Ich klammerte mich an ihn und ließ meiner Verzweiflung freien Lauf. Ich weinte und schluchzte. Es dauerte lange, bis die Tränen versiegten. Er stand nur da, ruhig, wie ein Baum. Er ertrug meinen Kummer, ließ mich nicht los. Hin und wieder strich er mir übers Haar, küsste meinen Scheitel. „Schschhhh.“, machte er „Schschhh. Es wird alles gut werden. Ich bin bei dir.“ Ich spürte seine Wärme, atmete seinen Duft und wünschte mir wieder so sehnsüchtig, dass alles anders gekommen wäre.
Die Wangen noch nass, die Augen bereits trocken sah ich zu ihm auf. Die Verzweiflung war aus seinem Gesicht gewichen. Sein Blick war ernst und ruhig. Noch einmal strich seine Hand über meine Haare. Dann beugte er sich zu mir und küsste mich. Ich zerfloss in Zärtlichkeit, löste mich auf in Wärme. Ich ließ mich halten, gab alles ab. Hier und jetzt hatte ich alles was ich wollte. Trost, Sicherheit, Liebe. Ich wusste, ich könnte das festhalten. Doch ich durfte nicht. Inmitten meiner wirren, heftigen Gefühle, hatte mein Verstand die Kontrolle übernommen. Mühsam löste ich mich von Tobias. „Tobi, nein. Du weißt ja gar nicht, was du da tust.“, flüsterte ich. Ich spürte, wie seine Muskeln sich verhärteten, als hätte ich ihm einen Schlag verpasst.
„Nein, lass mich bei dir sein! Ich will…“, begann er, doch ich ließ ich nicht ausreden.
„Nicht einmal ich weiß, was ich da gerade getan habe! Herrgott, ich weiß momentan überhaupt nichts!“, schrie ich voller Verzweiflung und trat einen Schritt zurück um mich seiner immer noch verlockenden Wärme zu entziehen. „Ein Teil von mir will deine Küsse, will deinen Trost. Und es tut mir leid, dich wieder zu enttäuschen. Aber es ist besser für dich, wenn du dich nicht auf mich einlässt.“
Tobias schüttelte energisch den Kopf. Er hatte die Situation wirklich noch nicht begriffen.
„Tobi. Ich bekomme ein Kind von deinem besten Freund! Es ist nicht an dir, mich zu trösten. Ich darf dich da nicht mit hineinziehen. Ich würde dich nur benutzen und verletzen. Bitte!“, schluchzte ich, als er sich mir näherte und seine Hände wieder auf meine Schultern legte. „Bitte. Ich bin schwach, ich bin nicht Herr der Lage. Wir würden es beide bereuen und du würdest mich hassen.“
Auch jetzt bekam ich nur ein Kopfschütteln als Antwort. Doch seine Augen verrieten mir, dass er verstanden hatte. Er hauchte mir einen quälend süßen Abschiedskuss auf die Lippen, drehte sich um und ging.
Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Wenigstens hatte ich die richtige Entscheidung getroffen und ihn weggeschickt. Auch wenn er für einen kurzen Moment meine Sehnsucht gestillt hatte und das Alleinsein jetzt umso schmerzhafter in mir pochte.
Eine ganze Weile stand ich so da, die Kühle des Mauerwerks im Nacken, und horchte in mich hinein. Ich musste lächeln, als ich begriff, dass ich so allein gar nicht war. Ganz sanft strich meine Hand über meinen Bauch. Noch eine richtige Entscheidung, die ich gerade getroffen hatte.

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