In Ordnung – Kapitel 8

Ein paar Salzkörner fielen auf meinen Bericht, als ich mir das nächste Stück Breze in den Mund schob. Eigentlich hatte ich gedacht, die Arbeit würde einen Monat vor den Ferien endlich weniger werden. Aber ich war immer noch so beschäftigt, dass ich meine Mittagspause im völlig überhitzten Lehrerzimmer mit zwei Butterbrezen und einer kalten Cola fristen musste. In meiner Tasche summte mein Handy. Erschrocken und schuldbewusst sah ich mich um. Handys waren an der Schule verboten und auch im Lehrerzimmer sah man es nicht gerne, wenn Klingeltöne die stickige Luft durchschnitten. Ich stellte mein Handy immer leise, wenn ich die Schule betrat. Abschalten kam nicht in Frage, ich wusste selbst nicht warum. Außerdem bekam ich ohnehin nicht viele Anrufe oder SMS um diese Zeit. Naja, außer jetzt eben. Mein schneller Blick durch den Raum bestätigte jedoch, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Es waren kaum Kollegen da und diejenigen, die hier herumsaßen waren zu vertieft in ihr Gespräch, um das Summen gehört zu haben.
Ich fischte mein Handy aus meiner Tasche.

SMS von „01712345678“ an „Klara“
Ich hol dich ab. Heute, später Nachmittag?
Tobi

Ich starrte auf die Buchstaben, als läge irgendwo zwei Schichten darunter ein tieferer Sinn. Dann klappte ich das Handy zu und schob es wieder in meine Tasche. Ich konnte mich jetzt nicht damit befassen, ich hatte zu tun. Beherzt biss ich in meine Butterbreze und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.
Als ich ein und denselben Satz bereits zum vierten Mal las, wurde mir klar, dass sich das mit Tobias nicht auf später verschieben ließ. Also nahm ich einen großen Schluck Cola, klappte meine Mappe zu, lehnte mich im Stuhl zurück und versuchte Ordnung in meinen Kopf zu kriegen.
Tobias war nett, er war gutaussehend, er war witzig – er war beinahe perfekt. Und doch war mir gestern Morgen bereits klar gewesen, dass es nicht mehr geben würde, als diese eine Nacht.
Vielleicht war es ja für ihn auch so.
Nein, wozu dann diese SMS, fragte ich mich. Er müsste mir keine SMS schreiben und er müsste sich erst recht nicht bei mir sehen lassen. Und dann blitzte ein Gedanke auf, der logisch klang.
Vielleicht hatte es ja mit Matthias zu tun. Tobias war schließlich sein bester Freund. Vielleicht hatte Tobias ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber, weil er mit mir geschlafen hatte. Wusste Tobias, dass Matthias und ich inoffiziell noch nicht so lange getrennt waren, dass wir uns noch getroffen hatten und dass Matthias mir dieses haarsträubende Liebesgeständnis gemacht hatte?
Kann nicht sein. Und wenn doch?
Wenn das so war – und diese Möglichkeit war zu gemein um wahr zu sein – dann war es vielleicht sogar ein abgekartetes Spiel. Um… um was? Ich biss mir auf die Lippe. Um es mir heimzuzahlen? Um sich zu rächen, weil ich bei Matthias nicht wieder weich geworden war. Vielleicht war Tobias gekommen, um mich zu verletzen. Mit diesem Grinsen, dass so süß, aber auch so böse sein konnte.
Ich wischte mir mit beiden Händen übers Gesicht, um wieder aus dem Loch aufzutauchen, in das ich mich manövriert hatte. Vielleicht war auch alles ganz anders. So kam ich jedenfalls nicht weiter. Es blieben mir nicht viele Möglichkeiten, um zu erfahren, was er von mir wollte und was er wusste. Ich griff in meine Tasche und versicherte mich, dass die Kollegen noch immer unaufmerksam waren.

SMS von „Klara“ an „01712345678“
Ab fünf bin ich zu hause. Bis dann.
Klara

Es kribbelte ganz unbestimmt, die restlichen Stunden. In meinem Kopf hatte ich bereits tausendmal das Outfit gewechselt. Es war wichtig, gut auszusehen auch oder gerade wenn dieses Treffen eine Falle war. Besser sich blöd fühlen und gut aussehen, als sich blöd fühlen und auch noch blöd aussehen.
Ich hatte mich für mein grünes Sommerkleid entschieden. Als ich mich im Spiegel betrachtete, fand ich es nicht mehr so gut und wollte mich schon wieder umziehen, da klingelte es.
„Na dann!“, sagte ich aufmunternd zu meinem Spiegelbild, warf meine Haare zurück und lief zur Tür.
Und wieder konnte ich nicht verhindern ihn ausgesprochen hübsch zu finden. Seine schwarzen Locken standen ihm wirr vom Kopf und dieses Grinsen überstrahlte alles.
„In den Park?“, fragte er und ich nickte.
„Du siehst gut aus“, stellte er fest, als wir ins Freie traten.
„Danke, du auch.“, antwortete ich ebenso feststellend.
Er grinste wieder und wir gingen eine Weile schweigend. Es war viel Verkehr und wir mussten lange an den Bordsteinen warten, um über die Straßen zu gelangen. Kurz vor dem Park, an einer dreispurigen Hauptstraße packte er plötzlich meine Hand.
„Jetzt“, rief er mir zu und zog mich mit.
Meine Hand in seiner fühlte sich komisch an. Sie passten nicht zusammen. Seine zu weiche Haut und seine wohlgeformten Finger waren nicht das, wonach meine Hand suchte. Groß, stark und knochig musste sie sein. Doch Tobias ließ mich nicht los. Auch nicht, als wir die Straße bereits überquert hatten und den Park betraten. Und ich beließ meine Hand unentschlossen in seiner. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, genauso wenig hatte ich einen Plan. Also nahm ich es so hin, wie es kam.
Als ob er meine Verlegenheit bemerkt hätte, begann Tobias zu reden und zu fragen.
„Wie ist das eigentlich am Samstag mit deiner Fahrerin noch ausgegangen? Ist die irgendwann wieder aufgetaucht?“
Ich erzählte ihm von Cordula und ihrer Eroberung und merkte, wie gut es tat, vor mich hin zu plappern und ab und an ein zustimmendes Lachen von Tobias zu hören. Im Park warfen die Bäume bereits längere Schatten, doch sonnige Flecken gab es noch genug. Wir entschieden uns für Halbschatten und setzten uns auf das warme Gras unter einer großen Eiche. Die Party ergab noch reichlich Gesprächsstoff. Wir unterhielten uns über Karin und wie es wohl Frank am Sonntag ergangen sein musste. Über die Betrunkenen, die es nicht mehr nach Hause geschafft hatten und wohl eine kalte Nacht unter freiem Himmel verbracht haben mussten. Und über seine Arbeitskollegen, die sich recht früh am Abend bereits abgeseilt hatten.
„Als ich angekommen bin, waren sie schon weg.“, berichtete er und starrte in die Äste, die über uns hingen. „Ich kannte da echt keinen mehr, außer dir.“
Ich lehnte mich zurück uns stütze mich auf meine Ellenbogen, um ebenfalls nach oben zu sehen. Ganz reglos bildeten die Blätter ein schützendes Dach. Kein Lufthauch bewegte sie. Es war drückend schwül. Ich lächelte zweideutig.
„Ach so… deshalb.“ Ich schloss schnell die Augen und verfluchte mich innerlich mehrfach. Es war das blödeste, was ich hatte tun können. Von selbst auf unsere gemeinsame Nacht anzuspielen. Und jetzt war es gesagt. Verflixt. Konnten meine Worte wirklich nie einen Umweg über mein Gehirn machen?
„Nein, nicht deshalb.“, antwortete er. Und bevor ich noch die Augen öffnen konnte, spürte ich auch schon seine Lippen auf meinen. Warm. Weich. Verführerisch. Für einen kurzen Moment war ich überrascht, wollte mich in diesen Kuss versenken, meine Hände in seinen Haaren vergraben und einfach nur genießen. Doch ich wusste, dass es falsch war. Denn so gut seine Lippen auch schmeckten, sie schmeckten nicht richtig. Sie waren nicht das, was ich wollte.
Sanft löste ich mich von Tobias und rückte ein Stück von ihm ab. Er sah mich verwundert an.
„Was ist?“
„Tobias, ich… bitte nicht.“, brachte ich stockend heraus.
„Wieso? Ich dachte…“
„Du liegst daneben.“ Ich richtete meinen Blick auf die Wiese unter meinen Füßen. Ich wollte ihn nicht ansehen. Ich weiß nicht, für wie lange Stille herrschte zwischen uns. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Eine Ameise lief mir über den Fußrücken und verschwand kurz darauf wieder im rettenden Gras. Als Tobias wieder zu sprechen begann, war seine Stimme leise, fast ein Flüstern.
„Dann war das am Samstag alles nur gelogen?“
Ich schüttelte den Kopf, sah ihn aber immer noch nicht an. „Ich hab dich nicht belogen. Wir hatten Sex, das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger.“ Meine Stimme war viel zu kalt.
Aus meinem Augenwinkel bemerkte ich, dass Tobias nun seinerseits ein Stück von mir abrückte. Ganz so, als hätte er Angst, sich mit irgendeiner Krankheit anzustecken. Als ich es endlich wagte aufzublicken, sah ich einen Hauch von Abscheu in seinen Augen. Abscheu, die auf mich übersprang und mich festhielt. Ich ertrug es, denn er hatte recht, sich vor mir zu ekeln.
„Das kannst du so einfach?“ Es war eine ehrliche Frage. Er erwartete eine Antwort.
„Na und? Männer tun das doch andauernd.“ Ich versuchte mir eine Maske aufzusetzen. Eine Maske aus Wut und Arroganz. Ich wollte diesen Ekel und diese aufkeimenden Schuldgefühle damit ersticken.
„Ich nicht.“ Auch Tobias hatte die Stimme erhoben.
„Dann bist du eben die glorreiche Ausnahme.“, bellte ich zurück. „Kann ich was dafür, dass du nicht so bist, wie alle anderen?“
Und wieder schwieg er. Nun waren es seine Augen, die auf den Boden gerichtet waren. Beinahe hätte ich sein Murmeln nicht verstanden, so leise war es.
„Da ist was mit einem Anderen, oder?“ Er blickte auf, starrte geradeaus. „Es ist der aus der Linde.“
Ich lächelte verächtlich und schüttelte abermals den Kopf. Kai? Was ein einziges Feierabendbier doch auslösen konnte. Aber als ich jedoch die Verzweiflung in Tobias’ Gesicht sah, erfasste mich eine kleine Welle des Mitleids. Er hatte es eigentlich nicht verdient, so abserviert zu werden. Er hatte eine Erklärung verdient.
„ Nein, ist es nicht. Tobias, sieh mal…“, setze ich an „ich kann mich nicht auf einen Versuch mit dir einlassen. Das wäre nicht fair. Ich brauche keinen Lückenfüller. Schon gar nicht…“
„…seinen besten Freund“, ergänzte Tobias tonlos. Ich sah wie das Wissen in ihn sickerte, langsam, dann immer schneller. Seine Augen weiteten sich, sein Mund klappte auf, als er die Wahrheit erkannte.
„Es ist Matthias. Du schläfst mit ihm.“ Er fragte nicht, er stellte fest. Er hätte mein Schweigen als Zustimmung nicht gebraucht. Dann hämmerte er seine Faust in den Boden. „Oh Gott, ich hätte es wissen müssen! Er war so seltsam – ich hab’s nicht erkannt.“ Dann sah er mich an und seine Augen bohrten sich vorwurfsvoll in meine. „Die Frau vor der Mälze – das warst du.“ Wieder schwieg ich. „Dieses Davonstehlen, diese Ausreden… ich hätte es wissen müssen.“ Seine Faust schlug erneut hart auf die Erde. Ich sah, wie er versuchte sich zu beruhigen, seinen Atem zu kontrollieren. Ich konnte nichts tun. Ich saß reglos im Gras und schaute ihn an. Sah, wie er sich schließlich zusammen riss.
„Er liebt dich nicht.“
„Ich weiß.“
„Aber warum?“
„Das ist nicht wichtig. Es ist vorbei.“
Auch meine Stimme war ein Flüstern. Meine eigenen Worte hatten mir weh getan. Mir und ihm. Es hatte keinen Sinn mehr, noch weitere Wunden aufzureißen. Sie sollten verschlossen bleiben, für immer. Also wandte ich mich von Tobias ab und stand auf. Ich war noch keine zwei Schritte entfernt, da hörte ich seine Stimme in meinem Rücken.
„Es ist noch nicht vorbei.“
Ich blickte zurück. „Doch, ist es.“
Tobias schüttelte den Kopf. Auch er war aufgestanden. Sein Lächeln war eine bittere Fratze. „Ich kann es dir ansehen. Du bist… süchtig.“
Dann ließ er mich stehen. Unter den Zweigen der Eiche, mitten im Park. Er drehte sich nicht ein einziges Mal nach mir um.

Meine braunen Ledersandalen scheuerten an der Haut zwischen meinen Zehen, als ich über den schwarzen Asphalt schlurfte. Schweiß brannte an den bereits offenen Stellen. Kurzerhand stoppte ich und zog die Schuhe aus. Lieber nahm ich die auch im Schatten immer noch starke Hitze des Teers auf mich, als weiter in dem Gewirr aus Lederriemen hin und her zu rutschen. Ich biss mir auf die Unterlippe, bis sich die Fußsohlen langsam an das Brennen gewöhnt hatten. Dann ging es viel besser.
Süchtig.
Meine Gedanken kreisten um Tobias’ letztes Wort.
Süchtig.
Pah!
Als ob er irgendetwas in meinem Gesicht hätte sehen können. Da gab’s nichts zu sehen. Schon gar keine Sucht.
Süchtig.
Süchtig nach was? Nach Sex? Nach Matthias?
Ich schnaubte verächtlich und ging ein wenig vorsichtiger, als der ebenmäßige Teer in Kopfsteinpflaster überging und mir kleine Kieselsteine in die Haut stachen.
Tobias war einfach nur verletzt gewesen. Beleidigt, weil ich ihn nicht wollte und wahrscheinlich wütend, weil sein bester Freund ihm nicht alles erzählte. Er hatte einfach um sich schlagen wollen. Und genau genommen hatte er nicht einmal heftig um sich geschlagen. Es hatte eher einem kleinen Klaps geglichen. Ich lächelte.
Tobias war zu bedauern. Er steckte in einer Zwickmühle. Es war wohl nicht anzunehmen, dass er Matthias darauf ansprechen würde. Schließlich musste er dann auch sein kleines Abenteuer mit mir preisgeben – etwas, von dem er bisher offensichtlich auch niemandem erzählt hatte. Zumindest nicht Matthias. Und so waren die beiden weiter dazu gezwungen nebeneinander her zu leben. Als Freunde – wie bisher eben auch. Nur würde Tobias diese Freundschaft vielleicht nicht mehr aus demselben Blickwinkel sehen.
Diese Erkenntnis verschaffte mit eine Befriedigung, die ich nicht erwartet hatte. Es gefiel mir tatsächlich, dass ich der Grund sein könnte, für kleine Risse in dieser Männerfreundschaft. Doch auch mein Gewissen meldete sich zu Wort, als ich barfuß die ungeputzten Treppen zu meiner Wohnung hochstieg. Darüber freut man sich nicht! – tadelte es. Was wäre, wenn du in seiner Haut stecken würdest? – forderte es mich heraus.
„Halt die Klappe!“, murmelte ich, während ich die Tür hinter mir zu warf und meine Sandalen in den Flur schleuderte.
Ich holte mir kaltes Wasser aus dem Kühlschrank, schlurfte in mein Wohnzimmer und setzte mich vor den Computer.

 

from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: sag mal…
Mo 29 Jun 2005 20:08

also mal angenommen… nur mal angenommen… du und paul, ihr trennt euch. du trennst dich von ihm. und ihr hättet anschließend so ein kleines sex-geschichtchen, von dem du mir aber nichts erzählen würdest (okay, ich weiß, ab hier wird’s kompletter blödsinn – aber trotzdem…).
und nur mal angenommen paul und ich hätten dann irgendwann mal eine heiße nacht zusammen (nur hypothetisch!!!!! nicht, dass paul nicht heiß wäre… aber alles gaaaanz hypothetisch)… auf wen wäre ich wohl sauer, wenn er mich abservieren würde, weil ich nicht du bin?
auf dich. klar wie kloßbrühe. weil du meine freundin bist und es GAAAAR nicht im geringsten akzeptabel wäre, wenn du mit dieses sex-geschichtchen verschwiegen hättest. und weil er dich mehr wollen würde als mich.
oder?

 

Oder eben nicht. Was tat ich denn hier blos wieder? Dieser Vergleich war löchrig – zu löchrig. Absurd löchrig!
Außerdem war das hier nicht mein Tagebuch.
Schnell löschte ich das Geschriebene und setzte neu an.

 

from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: nur damit du’s weißt
Mo 29 Jun 2005 20:29

ich wünsche dir und paul die allerlängste, glücklichste beziehung aller zeiten. bleibt zusammen, heiratet, kriegt einen stall voller kinder.
trennt euch nicht. das ist besser. auch für mich… (frag nicht.)
klara

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