In Ordnung – Kapitel 11

Nichts. Gar nichts. Da war nichts und da würde auch nichts kommen. Ganz langsam zog ich mich wieder an, drückte die Spülung und ging in den Vorraum zum Waschbecken. Vor draußen tönten Lautsprecherdurchsagen über den Rasen. Bestweiten wurden durchgegeben, Startplätze bekannt gemacht. Das Sportfest war in vollem Gange.
Ich ließ mir kaltes Wasser über die Hände laufen und lehnte meine Stirn an den Spiegel über dem Becken. Vier Tage. Vier Tage waren vergangen mit Bauchkrämpfen und Rückenschmerzen aber ohne Blut. Ich hatte alles schon mehrmals durchgerechnet und war immer wieder zum selben Ergebnis gekommen: Vier Tage überfällig.
Jeder Gang aufs Klo hatte mich die letzten beiden Tage zum Zittern gebracht. „Jetzt aber!“, hatte ich mir hoffnungsvoll gesagt. Und „bald“, als meine Hoffnung sich wieder nicht bestätigen wollte.
Ich wusste, dass es möglich war. Seit dem Tag an dem ich Matthias und Sandra im Park gesehen hatte, hatte ich die kleinen Hormonpillen nur mehr unregelmäßig genommen.
„Wozu denn noch?“, hatte ich eines Abends mein Spiegelbild gefragt und den Pillenstreifen ins Waschbecken fallen lassen.
Und jetzt? Meine Hände waren schon ganz rot vom eiskalten Wasser, das immer noch lief. Gänsehaut überzog meinen Rücken, meinen Nacken, meine Arme. Konnte ich es mir jetzt endlich eingestehen? „Noch nicht.“, flüsterte ich vor mich hin und schob den gefährlichen Gedanken beiseite. „Erst sicher sein.“
Die Klotür sprang auf und Sabina beugte sich herein.
„Klara kommst du? Wir müssen – ist irgendwas?“, unterbrach sie sich.
Ich schüttelte schnell den Kopf und drehte das Wasser ab. „Nein, alles klar. Was ist denn?“
„Gleich fängt’s an zu regnen. Wir müssen die Technik in Sicherheit bringen.“

 
„Schade.“ Kai klang enttäuscht. „Nach dem Sportfest wird bei uns immer gefeiert. Bis du sicher, dass du nicht kannst?“ Wir standen unter dem Vordach des Schultors, wo Kai auf die Kollegen wartete.
„Ich hab echt noch was zu erledigen, sorry.“ Ich versuchte ein entschuldigendes Lächeln. Es misslang total. Mein Gesicht war wie eingefroren. Jedes Blinzeln bereitete mir Mühe.
„Mittwoch dann aber sicher!“, beharrte Kai.
„Ja, Mittwoch dann.“
Die anderen Sportlehrer kamen und erlösten mich. Sie nahmen meine Entschuldigung beinahe gleichmütig hin, hakten Kai unter und liefen Richtung Innenstadt davon. Ich warf ihnen noch ein mattes „Servus“ hinterher und trat ebenfalls hinaus in den strömenden Regen.
Ich war mir nicht sicher, ob ich bis Mittwoch überleben würde. Ich hätte für die nächsten Stunden keine Garantie abgeben können.
Da ich weder Schirm noch Regenjacke bei mir hatte, war ich schnell bis auf die Haut durchnässt. Trotzdem hatte ich keine Eile. Denn plötzlich war mein Vorhaben wieder so absurd, so unnötig. Ich würde meine Tage schon noch bekommen. Vielleicht sogar jetzt in diesem Moment. Es war absolut hirnrissig einen Test zu kaufen. Ich würde mich nur lächerlich machen. Als das hässliche, graue Apothekengebäude am Arnulfsplatz auftauchte, verlangsamte ich meine Schritte ein weiteres Mal. Unschlüssig ging ich daran vorbei, machte kehrt und kaufte mir beim Bäcker nebenan eine Breze. Ich blieb vor der Bäckerei stehen, biss herzhaft ab und stellte fest, dass ich gar keinen Hunger hatte. Im Gegenteil. Mir war schlecht. Angewidert schob ich die Breze zurück in die Tüte und stopfte diese in meine Tasche. Ich würde jetzt nach Hause gehen – sofort. Erneut lief ich an der Apotheke vorbei, um wenige Meter später wieder umzudrehen. Diesmal schaffte ich es hinein, mit wackeligen Knien und nicht nur vom Regen nassen Händen. Die Schwangerschaftstests befanden sich im Regal neben den Kondomen und den Fruchtbarkeitscomputern. Überall strahlende Gesichter auf den Verpackungen. Ich fühlte mich fremd, mir war zum Heulen. Wahllos griff ich nach dem erstbesten Test und ging zur Kasse.
„Das Doppelpack wäre derzeit im Angebot.“, erklärte die freundliche Frauenstimme mir gegenüber.
„Was?“ Das Gesicht der Frau war unscharf vor meinen Augen. Ich blinzelte.
„Das Doppelpack wäre im Angebot.“, wiederholte die Stimme jetzt etwas lauter.
„Nein… nein danke. Ich brauch nur einen.“
Hastig wühlte ich in meinem Geldbeutel, legte ihr einen Schein auf den Tisch, kassierte mein Wechselgeld und lief mit dieser kleinen Apothekentüte in der Hand nach draußen, als wäre der Teufel hinter mir her.

 
Eine Stunde später hatte ich mich endlich dazu entschlossen nach Hause zu gehen. Ich war herumgelaufen bis der Regen meinen Körper zittern ließ. Den Test neben der Brezentüte in meiner Tasche. Als ich schließlich an meinem Küchentisch saß, das seltsame Stäbchen vor mir auf dem Tisch und die Gebrauchsanweisung in der Hand überfiel mich die Hysterie.
„Morgenurin!“, schimpfte ich in den blaubedruckten Zettel in meiner Hand „Wer zur Hölle kann schon bis zum Morgen warten? Wer kann schon schlafen?“ Tränen quollen aus meinen Augen. Ich konnte nicht warten, ich musste es jetzt wissen. Ich packte das Stäbchen und rannte zum Klo.
Zehn Minuten warten. Ich lief zum Kühlschrank, holte ein Bier und trank es leer in zehn Minuten.
Und doch lag es nicht am zu schnell getrunkenen Alkohol, dass meine Beine versagten, als ich mich endlich traute auf den Test zu schauen. Positiv.
Ich sackte zu Boden, der Kopf völlig leer, das Herz im Hals.
Das konnte nicht sein. Der Test konnte nicht stimmen. Nein. Nein. Nein.
Schnell sprang ich auf, packte meine Tasche, lief zum Arnulfsplatz und kaufte einen zweiten Test.

 

SMS von „Klara“ am „Matthias“
Heute geht nicht. Keine Zeit.

 
„Mama?“
„Klara, schön, dass du dich auch mal meldest!“
Mama, ich bin schwanger.
„Wie geht’s dir denn? Jetzt sind doch bald Ferien. Sag mal wolltest du uns gar nicht besuchen kommen?“
„Ich weiß noch nicht.“
Mama, ich hab grad einen Schwangerschaftstest gemacht.
„Was heißt, du weißt noch nicht?“
Zwei sogar.
„Ich muss erst sehen. Es kann sein, dass ich wegen der Bewerbungen…“
„Wie, du hast noch immer keine Antwort?“
Beide positiv.
„Nein, das dauert immer ewig, bis sich die melden.“
Das ist jetzt wirklich wichtig, Mama!
„Klara, ich hab dir angeboten, dass Papa da mal anruft. Letztes Jahr schon. Aber du wolltest ja nicht.“
„Nein Mama, das bringt nichts. Das ist da so, glaub mir.“
Mama, Hilfe!
„Naja… aber nicht, dass du da wieder was verpasst.“
„Nein, ich hab alle Fristen eingehalten. Aber das dauert, echt. Und wenn ich dann umziehen muss…“
„Wie, umziehen? Wo willst du denn hin um Gottes Willen?“
Ich will mich erschießen.
„Vielleicht komme ich nach München.“
„Und du lässt Matthias ganz alleine in Regensburg?“
„Mama, mir kocht da grad was über! Ich melde mich später noch mal, okay?“
„Klara, du kannst doch nicht telefonieren und gleichzeitig…“

 
Die Frauenärztin sah mir an, dass sie sich ihre Glückwünsche sparen konnte.
„Das ist kein geplantes Kind, oder?“, fragte sie stattdessen.
Nachdem sie mich untersucht und festgestellt hatte, dass dieser winzige Punkt auf dem Ultraschallbild etwa 21 Tage alt war, hatten wir an ihrem Schreibtisch Platz genommen.
„Nein.“, antwortete ich tonlos.
„Naja, es gibt eine Menge ungeplanter Kinder, die heute sehr glücklich sind.“, versuchte sie mich aufzumuntern. Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern.
„Gibt es etwas das Ihnen darüber hinaus Kopfzerbrechen bereitet?“
Ich weiß nicht wie es weitergehen soll, ich weiß nicht was ich Matthias sagen soll, ich weiß nicht was ich tun soll, ich weiß nicht, ichweißnicht, ichweißnichtichweißnicht!
„Nein. Nur der Schock.“ Meine Stimme versagte, ich musste mich räuspern. Dann war es, als würde sich ein Teil meines Gehirns einfach ausklinken, als würde mein Herz von einem eisigen Mantel umfasst und eine ganz andere Klara aus mir sprechen: „Wie ist das mit… wenn ich’s nicht haben will?“
Die Ärztin lehnte sich in ihrem Sessel zurück und betrachtete mich eingehend. Meine Worte hingen unangenehm im Raum. Als sie mir endlich eine Antwort gab, war ihr Gesicht ernst und ihre Stimme sanft.
„Selbstverständlich haben Sie die Möglichkeit, diese Schwangerschaft abzubrechen. Sie brauchen dazu einen Beratungsschein, den Ihnen spezielle Beratungsstellen ausstellen können. Da kann ich Ihnen eine Broschüre mit Adressen mitgeben, wenn Sie möchten.“ Ich nickte, doch die Ärztin war noch nicht fertig. „Andererseits… Sie sind jetzt 25, keine 17 mehr. Sie sind gesund, sie haben Arbeit. Ein Kind wäre vermutlich nicht das Ende der Welt…“ ich öffnete den Mund um ihr zu widersprechen „…nein, auch wenn der Schock momentan groß ist: Es wäre nicht das Ende der Welt. Bitte überlegen Sie es sich gut. Lassen Sie sich ein wenig Zeit. Und falls Sie sich doch für Ihr Kind entscheiden sollten: Auch dafür gebe ich Ihnen eine Broschüre mit.“
Als ich die Tür der Praxis hinter mir zuzog, rauschten Gedanken und Bilder durch meinen Kopf, tauchten auf, verschwanden wieder, kehrten zurück. Wellen der Panik durchfluteten mich. Ich passte meine Schritte meinen rasenden Gedanken an, hetzte über das Kopfsteinpflaster, rempelte Passanten an, entschuldigte mich nicht.
… nur der Schock… ungeplant … wenn Sie sich doch für Ihr Kind entscheiden sollten … keine 17 mehr… nicht das Ende der Welt … Schwangerschaft abbrechen…
Ich zwang mich, langsamer zu gehen. Es kostete mich unendlich viel Kraft. Ich versuchte mich auf meine Schritte zu konzentrieren. Einer und noch einer und noch einer. Und wirklich: Meine Gedanken schienen sich zu ordnen, je ruhiger ich wurde. Ich bog in die Silberne Fischgasse ein.
… nur der Schock … nicht das Ende der Welt…
Schritt für Schritt stieg ich die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Eine nach der anderen.
… wenn sie sich doch für Ihr Kind entschieden sollten…
Nur noch wenige Bilder wechselten vor meinem inneren Auge. Die Panikwellen ebbten ab. Und als ich schließlich ein Glas Wasser getrunken hatte und mich auf meinen Küchenstuhl sinken ließ, war nur ein Bild übrig geblieben: Schwarz-graues Schneegestöber auf dem Ultraschallgerät der Ärztin. Und mittendrin – ein 21 Tage alter Punkt.
Ich zog die Broschüren aus meiner Tasche und lachte in einem Anfall von Hysterie laut auf, als ich die erste Überschrift las:
Schwanger? – keine Panik!

 
from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: das ist kein scherz
Di 28 Jul 2005 19:42

ich bin schwanger

 

Und wieder eine Nacht ohne Schlaf. Der Wecker beendete mein Hin- und Herwälzen. Aufstehen, Rausgehen. Noch ein paar Stunden bis zu den Sommerferien. Ich versuchte mich für den bevorstehenden Tag zu wappnen, versuchte mich auf das Rätsel zu konzentrieren, das ich in dieser einen Deutschstunde mit meiner Siebten machen wollte, doch es gelang mir nicht. Während ich durch die noch morgendlich kühlen Gassen der Stadt zur Schule lief, spann mein Kopf diese irren verwickelten Fäden weiter, die er vor einigen Nächten begonnen hatte. Ich hatte das Gefühl, die Welt um mich herum, die Häuser, die Bäume, Kopfsteinpflaster, Luft, alles hätte sich mit einem großen, gewaltigen Ruck verschoben. Wenn ich in den Spiegel sah, erschrak ich, denn ich erwartete nicht, mein altes, mir bekanntes Gesicht zu sehen. Vielmehr war ich davon überzeugt, ich müsste mich verändert haben. Äußerlich so sehr wie innerlich. Aber auch jetzt, in den Schaufenstern einiger abgewrackter Läden entlang der Gasse, sah mein Spiegelbild so aus wie immer. Mein Busen spannte. Doch richtig sichtbar war diese Veränderung nicht. Würde Matthias es merken? Die kalte Angst, die mich bei diesem Gedanken durchströmte nahm mir alle Luft. Und wieder war ich bei dieser einen Frage angelangt: Wie sollte ich es ihm sagen? Sollte ich?
Es nicht zu sagen hieß, mich trennen – sofort und ohne Erklärung. Wahrscheinlich war das die beste Lösung. Vielleicht hatte er aber auch ein Recht darauf, zu wissen, was los war. Als Vater. Alleine dieses Wort ließ mich würgen. Vater. Mutter. Wieder passte alles nicht. Wieder fühlte ich mich fremd.
Ein Schüler drückte neben mir auf den Knopf der Fußgängerampel. Wie lange hatte ich hier gestanden und das rote Ampelmännchen angestarrt?
„Guten Morgen, Frau Meyer!“, grüßte Pascal. Er war einer meiner Siebtklässler.
„Guten Morgen.“, grüßte ich zurück und rang mir ein Lächeln ab. Es sollte unbeschwert und locker aussehen – ganz bestimmt tat es das nicht. „Endspurt, hä?“
„Ja.“ antwortete er trocken. „Noch dreieinhalb Stunden…“
Das grüne Ampelmännchen leuchtete und Pascal rannte los.
„Bis gleich!“, rief er noch.
Ich folgte ihm nicht ganz so schnell. Und doch, so glaubte ich, hatten wir denselben Gedanken.
Noch dreieinhalb Stunden…
Als ich die Treppen zum Lehrerzimmer hinaufstieg, war ich wieder ganz bei der Vorbereitung auf meinen letzten Arbeitstag an dieser Schule.
Was danach kam, wer konnte das schon wissen?

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