In Ordnung – Kapitel 9

Der kleine Biergarten im Innenhof des Mexikaners war übervoll und das Essen ließ auf sich warten. Trotzdem war die Stimmung gut. Ein paar meiner Kollegen aus der Schule – die „Jüngeren“ sozusagen – hatten sich hier verabredet und mich ebenfalls eingeladen. Und so saß ich nun, umringt von Sabina, Katja, Armin und Kai, die gerade angeregt über irgendetwas diskutierten. Ich wusste nicht worüber. Ich saß nur da, genoss die abendliche Wärme, nahm ab und zu einen Schluck Radler und hing meinen eigenen Gedanken nach.
In dieser Gemütlichkeit, hier und jetzt hätten mich keine zehn Pferde aus Regensburg schaffen können. In Momenten wie diesen wollte ich bleiben. Doch wenn ich mir meine Kollegen so ansah, kam keiner von ihnen aus der Gegend. Sabina aus Lindau, Katja aus Dresden, Armin aus Stuttgart und Kai aus Koblenz. Also konnte ich nicht erwarten, bleiben zu dürfen. Oberbayern suchte Lehrer. Ganz besonders München.
Und ein anderer Teil von mir wollte ja auch weg. Der Teil, der immer dann zum Vorschein kam, wenn es gerade nicht gemütlich war. Dann sagte ich mir: Mach einen klaren Schnitt, lass das alles hier hinter dir und es wird dir besser gehen. Bring ein paar Kilometer zwischen dich und die Erinnerung an diese seltsamen, verkorksten Sommermonate. Zwischen dich und Matthias.
Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Matthias gehörte nicht hierher. Gehörte nicht in meinen Kopf. Ich konnte ohnehin nicht beeinflussen, ob ich bleiben oder gehen musste. Und wer sagte denn, dass ich, sollte ich gehen, vielleicht nicht auch eines Tages wieder hierher zurückkommen würde?
„Klara?“, Kai stupste mich in die Seite und riss mich aus meinen Gedanken.
„Hm?“ Ich blinzelte, als wäre ich gerade eben aufgewacht und sah in die lachenden Gesichter der anderen. Dann bemerkte ich, dass die Bedienung wohl endlich das Essen gebracht haben musste, denn vor jedem von uns stand ein üppig beladener Teller.
„Oh.“, bemerkte ich erfreut und schnappte mir sofort mein Besteck.
„Und, was ist jetzt?“, fragte Kai ungeduldig.
„Hm?“, machte ich wieder. Diesmal aber, weil ich den Mund voll mit köstlichem Hühnchen hatte. Armin prustete.
„Kommst du noch mit woandershin?“, fragte Sabina stellvertretend für Kai, der nun seinerseits kaute.
Ich zuckte die Schultern und überlegte. Ja, es war Dienstag und morgen war wieder Schule. Aber es waren nur noch wenige Wochen bis zu den Sommerferien und die Zeit, die ich heute mit meinen Kollegen verbracht hatte, war echt schön gewesen. Zu schön, um einfach nach dem Essen hier nach Hause zu gehen. Ich schluckte meinen Bissen hinunter: „Klar.“, sagte ich, grinste und machte mich mit mächtigem Hunger wieder über mein Hühnchen her.
Wir wollten gerade bezahlen, als eine weitere Gruppe Gäste den Biergarten betrat. Suchend sahen sie sich nach einem freien Platz um. Aber jeder Tisch war besetzt. Eine von Ihnen entdeckte die Geldbörsen auf unserem Tisch, drehte sich kurz zu den anderen um und steuerte dann geradewegs auf uns zu. Erst als sie sich auf ein paar Schritte genähert hatte, erkannte ich Tina mit der ich noch bis vor einem Jahr im Seminar gesessen war. Sie begrüßte mich überschwänglich und hoffnungsvoll. Auch ich freute mich, sie zu sehen. Und als ich ihr bestätigte, dass wir hier bald die Plätze räumen würden, winkte sie ihre Begleiter heran.
Mit Unbehagen entdeckte ich Sandra unter ihnen. Das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte… nein, daran wollte ich nicht denken. Doch so sehr ich mich auch bemühte, die Bilder drängten sich in den Vordergrund. Sandra lächelnd, Hand in Hand mit Matthias. Ich holte tief Luft und versuchte eine freundliche Miene aufzusetzen.
„Hallo Sandra!“ Merkte sie, wie falsch meine Stimme klang?
„Grüß dich, Klara!“, antwortete sie erfreut und das war nicht im Mindesten aufgesetzt. Vielleicht war sie auch nur eine bessere Lügnerin als ich. Vielleicht wusste sie aber auch nicht was ich wusste, hatte nicht meine Bilder im Kopf und freute sich deshalb wirklich mich zu sehen. Und um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen kam sie um den Tisch gestöckelt und küsste mich zur Begrüßung auf die Wange. Ich hielt still. Aus dem Augenwinkel sah ich die Bedienung mit der Rechnung kommen.
„Wie geht es dir?“, wollte ich von Sandra wissen. Und nicht nur das. Ich wollte wissen, was sie wusste. „Wie geht es Matthias?“, fragte ich unschuldig weiter. Ich war so gemein.
In Sandras Gesicht zuckte kurz etwas, dann antwortete sie nicht mehr ganz so gut gelaunt.
„Ach weißt du…“, begann sie zögerlich. Dann sprudelte es aus ihr heraus, als hätte sie nur darauf gewartet, mir das zu sagen. „Wie es Matthias geht weiß ich nicht. Wir beide…“ und sie zeigte erst auf mich dann auf sich „…wir beide haben jetzt sozusagen einen gemeinsamen Exfreund.“
„Oh, tut mir leid.“, log ich und wusste, dass sie es sofort durchschauen würde.
„Mir war gar nicht bewusst, dass du die Sache zwischen ihm und mir… dass du davon gewusst hast.“, sagte sie ehrlich überrascht. Nun war ich mit Bezahlen an der Reihe und zuckte nur unbestimmt mit den Schultern. Was hätte ich auch sagen sollen?
„Du bist mir doch nicht böse, oder? Ich meine, das mit dir und ihm war schon ne ganze Weile her bevor das mit mir und ihm… du hast nichts mehr von ihm wissen wollen…“
„Schon gut.“, murmelte ich und stand auf. Sie wusste nichts, es war wirklich gut. Meine Kollegen hatten sich ebenfalls erhoben. Sie warteten auf mich.
„Spielt ja jetzt keine Rolle mehr.“ Ich schaffte ein Lächeln, nahm meine Tasche und überließ ihr meinen Platz.

Wir einigten uns schnell auf das „Rive Droite“. Wohl hauptsächlich, weil es kein weiter Weg dorthin war und weil es nicht die „Wunderbar“ war. Diesen Vorschlag von Sabina hatte ich mit einem derart resoluten „nein“ abgewehrt, dass sich niemand weiter zu fragen traute. Wozu auch, gab es doch genügend andere nette Kneipen in Regensburg, die ebenfalls einen Besuch wert waren. Um nichts in der Welt wäre ich in die „Wunderbar“ gegangen. Wobei ich nicht wusste, wen ich weniger treffen wollte. Matthias oder Tobias? Das Wissen, das sie eventuell bereits miteinander geteilt und zusammengefügt hatten, schreckte mich ab. Außerdem war ich nicht scharf darauf, Karin oder Cordula zu sehen und ihren Fragen bezüglich Samstag auszuweichen. Das Telefonat am Sonntag mit Cordula war schon schwer genug gewesen. Glück für mich, dass sie die meiste Zeit nur von Thorsten erzählt hatte. Und doch hatte ich die wenigen Lücken ihrer Schwärmerei mit vagen Ausflüchten füllen müssen. Noch war ich nicht bereit für ein Gespräch Auge in Auge mit meinen Freundinnen.
Das „Rive Droite“ war angesichts der Tatsache, dass Dienstag war, gut gefüllt. Trotzdem fanden wir schnell einen freien Platz in der Nähe des Tresens. Wir schickten Kai und Armin los, um Bier zu holen. Die Musik knallte so laut durch die Boxen, dass es beinahe unmöglich war sich ohne Stimmverlust zu unterhalten. Sabina und Katja setzten mit einiger Mühe ihr Gespräch fort, das sie unterwegs begonnen hatten. Ich konnte und wollte mich nicht einklinken. Also begann ich stattdessen die Leute zu beobachten. Die Zeit, in der sich meine halbe Abschlussklasse hier aufgehalten hatte, war längst vorbei. Das Publikum hatte den Altersschnitt beibehalten – wir waren da schon beinahe rausgewachsen. Und schließlich hatte es viele meiner Bekannten von damals nach dem Studium in die verschiedensten Ecken der Welt verschlagen. Berlin, Norwegen, Amerika, Australien… Wehmut stieg in mir auf, als ich an Verena dachte. Aber es war ja nicht mehr lange bis zu ihrer Rückkehr, tröstete ich mich, als Kai mir eine Flasche Pils in die Hand drückte.
„Du bist schon den ganzen Abend so schweigsam“, sagte er, dicht zu mir gebeugt, um die Musik zu übertönen.
„Bin ich?“, rief ich zurück. Es war mir gar nicht aufgefallen. „Ich denke nur dauernd: Wie doch die Zeit vergeht! Vor allem, wenn ich mich hier so umschaue.“
Kai setzte ein tadelndes Lächeln auf. „Schluss jetzt mit Grübeln! Für mich bist du echt noch ein junger Hüpfer! Und wenn du jetzt schon mit den Früher-war-alles-besser-Sprüchen daherkommst, was soll dann ich alter Sack sagen!? Trink dein Bier!“, befahl er und ich gehorchte.

Ein Pils später besannen wir uns dann doch auf unsere Pflichten am nächsten Tag und verließen die Bar. Am Ausgang verabschiedeten sich Katja und Sabina. Sie hatten einen anderen Heimweg. Kai, Armin und ich wandten uns in die entgegengesetzte Richtung. Wir hatten kaum drei Schritte getan, als hinter uns ein lautes „Klara!“ über die Straße hallte. Ich zuckte zusammen, fuhr herum und sah Matthias vom anderen Ende der Straße her auf mich zulaufen. Einem ersten Impuls nach wollte ich mich umdrehen und rennen. Doch ein weiteres „Klara, bitte warte!“ hielt mich ab. „Was will denn der?“, hörte ich Kai neben mir murmeln und registrierte, wie Armin mit den Schultern zuckte. Doch beide blieben stehen. Links und rechts von mir, wie zwei Wachhunde. Noch ehe mich Matthias erreicht hatte konnte ich über seine Schulter hinweg sehen, dass auch seine Begleiter stehen geblieben waren. Mike und Stefan. Wo war Tobias?
Matthias taxierte kurz Kai und Armin, konzentrierte sich dann jedoch ganz auf mich.
„Danke.“, sagte er leicht außer Atem. „Klara, bitte kann ich kurz mal mit dir reden?“ Seine Stimme klang unsicher.
Ich musste mich einen Augenblick sammeln. Wieder sehnte sich mein ganzer Körper nach ihm, wollte ihn berühren und küssen. Doch tief aus meinem Kopf hallten Tobias’ Worte. Er liebt dich nicht. Ich weiß, antwortete ich stumm, blickte auf und versuchte meine Miene so gleichgültig wie möglich aussehen zu lassen. Ich zog die Augenbrauen fragend hoch.
„Ich wüsste nicht, was wir noch zu bereden hätten.“ Und doch wusste ich eine ganze Menge.
Er berührte meinen Arm. „Bitte, es ist wichtig.“
Ich blickte ihm prüfend in die Augen. War er hier, um mit mir über Tobias zu reden? Dafür sah er nicht wütend genug aus. Ich seufzte betont gelangweilt. „Meinetwegen.“
„Allein.“, forderte Matthias mit Blick auf meine beiden Begleiter. Ich meinte zu sehen, wie seine Augen eine Winzigkeit länger auf Kai ruhten.
Ich drehte mich zu Kai um, dem die Frage „Wirklich?“ deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
„Geht doch schon mal weiter. Zur Not schaff’ ich die paar Meter zu meiner Wohnung auch allein.“
Kai nickte. Sein Blick verriet aber, dass er meinen sorglosen Worten nicht ganz traute. Kurz bevor er und Armin dann einige Meter weiter um die Ecke bogen, schaute Kai noch einmal zurück. Ich hoffte inständig, dass sie nicht auf mich warten würden. Denn auch ihnen wollte ich keine Erklärung schulden.
„War er das?“, fragte Matthias herrisch und nickte mit dem Kopf in die Richtung in der Kai und Armin verschwunden waren.
Das würde es also werden. Ein Streit. Ich spürte, wie sich in mir alles auf Angriff richtete. Wie Eisenspäne nach einem Magneten.
„Deshalb hat du mich aufgehalten? Das war deine Frage?“, meine Stimme klang giftig. „Dann lass dir sagen: Das geht dich nichts an!“ Ich hatte nicht vor, mich zu Rechtfertigungen hinreißen zu lassen. Denn war ich einmal in der Defensive – das sagten mir alle meine Sinne mit unmissverständlicher Deutlichkeit – würde er mich wieder fangen und ich würde die Antworten ausspucken, die er hören wollte.
Ich sah die Wut in Matthias hochkochen, sah wie er die Hände zu Fäusten ballte und für eine Sekunde glaubte ich, er würde mir ins Gesicht schlagen. Doch er fasste sich, atmete tief ein und kämpfte das Brodeln in ihm nieder. Seine Hände blieben jedoch weiter Fäuste.
„Nein. Nein. Das war nur… Klara ich wollte…“
Es würde nicht um Tobias gehen. Soviel war klar. Wenn er immer noch dachte, Kai wäre mein neuer Freund, konnte Tobias noch nichts erzählt haben. Nebeneinander her…, dachte ich beinahe belustigt.
„Hey, Matthias! Dauert das noch lange bei euch?“ Mike war ungeduldig geworden.
Matthias seufzte und wandte sich zu seinen Freunden um. „Ja, kann sein. Geht ohne mich. Ich komm nach, ja?“ Gehorsam verschwanden Mike und Stefan in der nächsten Querstraße.
Als er wieder meinem Blick begegnete, schien er einen Entschluss gefasst zu haben. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach meinen Händen und hielt sie fest. Ich war überrascht, zuckte zurück, befreite mich jedoch nicht.
„Du fehlst mir, Klara.“ Seine Stimme war weich und eindringlich, kroch in mir hoch und nagte an meiner Angriffshaltung. Schnell entriss ich ihm meine Hände und ließ ätzende Ironie in meine Worte fließen.
„Was ist? Bin ich wirklich dein einziger Ausweg? Hast du sonst niemanden, zu dem du ins Bett kriechen kannst? Nein. Nicht mit mir. Such dir doch ein anderes naives kleines Flittchen, dass die Beine für dich breit macht!“
Matthias stutzte. Diese Antwort hatte er wohl nicht erwartet. Doch er gab so schnell nicht auf, packte mich an meinen Schultern und flüsterte nah an meinem Gesicht.
„Nein. Darum geht es nicht. Klara, DU bist es, was fehlt. DU, nicht der Sex.“
Ich schloss die Augen. Sollte das jetzt immer so weitergehen? Sollte ich nie von ihm frei kommen? Würde er sich immer wieder in meinen Kopf, in mein Herz, in meinen Körper zurückdrängen, immer dann, wenn ich glaubte, es geschafft zu haben?
Sein Duft war überwältigend, sein Atem strich über meine Lippen und meine Knie wurden weich. Ich war kurz davor mich zu ergeben, aufzugeben und alles hinzunehmen, was an Wut und Trauer es auch beinhalten mochte. Und wieder hallte Tobias’ Stimme in meinem Kopf: Er liebt dich nicht.
Mühsam zwang ich mein schmelzendes Inneres zu Raison, öffnete die Augen und antwortete mit der ganzen Kälte, die ich aufbringen konnte:
„Matthias bitte lass mich los. Bitte lass mich in Ruhe. Sprich mich nicht an, fass mich nicht an. Es ist vorbei. Ich möchte nie wieder etwas mit dir zu tun haben.“
Der Griff seiner Hände an meinen Schultern war schlaff geworden. Ich schüttelte ihn ab, drehte mich um und ging. Jeder Schritt war wie mit Blei gefüllt. Aber ich wusste, es war richtig und die Schritte würden leichter werden.

Tatsächlich warteten meine Kollegen am Eck, um mich sicher nach Hause zu bringen. Ich schämte mich, wollte nicht, dass sie meinetwegen so edelmütig sein mussten. Schließlich kannten sie mich ja kaum.
„Danke, das wäre jetzt aber echt nicht nötig gewesen.“, nuschelte ich verlegen.
„Gern geschehen.“, antwortete Armin gelassen.
„Exfreund?“, fragte Kai und ich nickte.
Dann schwiegen wir den ganzen restlichen Weg.
An der letzten Kreuzung verabschiedeten sie sich. Ich hatte nur noch wenige Meter und brauchte nun wirklich keine Beschützer mehr.
Ich betrat meine Wohnung, schlüpfte aus meinen Sandalen und ließ meine Handtasche zu Boden plumpsen. Da hämmerte es plötzlich an meiner Wohnungstür. Ich erschrak, fuhr herum und sah eine dunkle Silhouette durch die Milchglasscheiben der Tür.
„Kai?“, rief ich und wusste bereits, dass er es nicht sein würde. Er würde mir nicht die Scheibe einschlagen wollen.
„Mach auf Klara, ich bin’s.“, drang Matthias’ Rufen herein.
„Was hast du nicht verstanden an: Lass mich in Ruhe?“, zischte ich zurück. Meine Beherrschung war nur gespielt. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es lag etwas in seiner Stimme, das mich irritierte.
„Klara, lass mich rein! Bitte!“ Und wieder meinte ich, meine wackelige Haustür müsste jeden Moment unter seinen Fäusten bersten.
„Sei still verdammt und verschwinde!“, fauchte ich. Doch ich wusste, das würde er nicht tun. Er würde hier stehen bleiben und alle Nachbarn wecken. Das war albern! Wieso führte er sich so auf?
Ich entschied, dass es besser war, den Lärm zu beenden, griff nach dem Schlüssel und drehte ihn im Schloss. Schon stand er im Flur. Schwer atmend, am ganzen Körper zitternd, seine Augen hart auf mich gerichtet. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Nicht dass er mir Angst machte, es war vielmehr eine seltsame Faszination, die mich gepackt hatte. Diese Situation – sie konnte unmöglich real sein.
Noch ehe ich etwas sagen konnte, begann Matthias. Er sprach die Worte aus, wie sie ihm in den Sinn kamen.
„Klara ich kann nicht… ich halte das nicht länger aus! Wieso… ich meine, dieser Kerl! Ich habe dir gesagt, dass ich… und warum ich…! Verdammt! Ich liebe dich!“ Seine Stimme überschlug sich und er holte tief Luft um sich zu sortieren. Ich stand unschlüssig da, nicht fähig zu einer Reaktion. Doch ich spürte, wie viel zu viel mir diese Situation wurde. Ich wollte nicht, dass er hier stand und kämpfte. Ich wollte, dass er aufhörte. Meine Worte vorhin hatte ich ernst gemeint, dass wusste ich jetzt mit erschlagender Gewissheit. Er sollte mich endlich in Ruhe lassen! Er sah es in meinen Augen und in seinen blitzte Verzweiflung.
„Klara, mach Schluss! Ich will nicht… ich WILL nicht, dass du mit einem anderen Typen zusammen bist! Du gehörst mir!“
Ich schüttelte nur den Kopf. Ich sah, wie es in ihm tobte, wie er überlegte. Er wanderte von einem Eck des Zimmers zum anderen, biss die Zähne zusammen, suchte einen Ausweg. Seine Stimme war ruhiger, als er stehen blieb und weitersprach.
„Ich dachte, es könnte mir egal sein. Aber das ist es nicht. Ich will dich wieder haben. Ich ertrag’ die Vorstellung nicht dass ein anderer…“ Wieder ließ er die Worte in der Luft hängen. Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn für immer zu vertreiben. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und sprach leise, als würde ich abwägen:
„Und wenn mich der andere auch haben will? Mehr haben will, als du? Ich soll sein Herz brechen? Für dich?“
Matthias machte eine wegwerfende Bewegung. „Sein Herz ist mir vollkommen egal.“
„Wirklich?“, fragte ich und machte noch einen Schritt in seine Richtung. Er war nur mehr eine Armlänge entfernt.
Er lachte ein schnaubendes Lachen. „Scheißegal.“
Ich holte aus. „Und wenn es Tobias’ Herz wäre, dass ich brechen müsste?“
Ich hielt den Atem an und sah, dass auch seiner stockte. Ungläubig starrte er mich an. Doch ich wollte mich versichern, dass er wirklich und wahrhaftig begriffen hatte. Wie giftige Pfeile sausten meine Worte durch die Luft.
„Er ist mindestens ein genauso gut im Bett wie…“
Weiter kam ich nicht. Matthias Hand traf mich an der Schläfe, schickte einen brennenden Schmerz durch meinen Kopf und ließ Punkte vor meinen Augen tanzen. Ich taumelte zurück, und hielt mich an meinem Garderobenschrank fest, da stürzte Matthias sich auf mich. Ich wankte, stolperte unter seiner Kraft, fiel zu Boden und riss ihn mit mir. Für eine Sekunde war alles schwarz, doch als ich die Augen wieder öffnen konnte, blickte ich direkt in seine. Verzweiflung, Wut und Angst tobten in ihm, in seinem ganzen Körper. Seine Lippen flüsterten ein heiseres „Nein. Nein. Nein.“ und seine Hände bahnten sich wild uns ziellos ihren Weg über meine Arme, meinen Kopf, mein Gesicht. „Das wollte ich nicht. Oh mein Gott, entschuldige!“, sagten seine Lippen, doch als er mich küsste und sich an mich drückte, spürte ich, was ein anderer Teil von ihm wirklich wollte. Er wollte Wüten. Wollte Beherrschen. Ich sah, wie er mit sich rang, merkte, wie sein Verlangen stärker wurde und begann endlich mich zu wehren. Ich schlug auf ihn ein, bäumte mich auf und versuchte ihn von mir weg zu schieben. Ich traf sein Gesicht. Er schrie auf, packte meine Hände und hielt sie fest. Es war jetzt ganz deutlich, welcher Teil die Oberhand hatte. Er hatte sich entschlossen. Mit einer schnellen Bewegung öffnete er seine Hose und griff nach dem Slip unter meinem Rock. In meinem Kopf schossen die Gedanken wild durcheinander. Panik durchzuckte meinen Körper, ich kämpfte sie nieder, zwang mich ihn anzusehen. Das hier war Matthias. Ich wusste, was er tat und ich wusste warum er es tat. Und mit einem Mal erfasste mich eine ebenso starke Entschlossenheit. Als er mich küsste, ließ ich es geschehen, als er hart in mich drang, öffnete ich meine Beine. Er wollte sich vergessen, ließ seiner Gier freien Lauf. Doch sein Wille war nicht stark genug für mich. Ich begann seine Küsse zu erwidern, mich ihm entgegen zu strecken, seine Bewegungen zu übernehmen. Ich spürte sein Zögern, als er merkte, was vor sich ging, doch ich ließ mich nicht aufhalten. Ich bereitete ihm Vergnügen. Zu viel Vergnügen. Er war unfähig zu stoppen. Sein Versuch mich zu beherrschen entglitt ihm. Ich sah das Staunen in seinen Augen und hörte sein Stöhnen, als ich die Kontrolle übernahm. Jetzt war es an ihm mir zu folgen. Ich schob ihn von mir weg, er drehte sich auf den Rücken. Ich setzte mich auf ihn, bewegte mich langsam und bewusst. Er war zu perplex, um zu widerstehen. Ich hielt ihn hart an der Grenze, genoss die Macht, die mich durchströmte. Sie wurde stärker, erfüllte mich ganz und ein heiseres Lachen drang aus meiner Kehle. Ich kam, nur einen Wimpernschlag vor ihm, krallte mich in seine Brust und befreite mich mit einem Schrei.

Es war bereits eine Stunde Mittwoch. Ich betrachtete mich im Badezimmerspiegel. Bis auf einen kleinen blauen Fleck an der Schläfe hatte ich mich auf den ersten Blick nicht verändert. Doch als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass mir große Erleichterung entgegenspiegelte. Meine Augen funkelten, mein Mund hatte diesen verkniffenen Ausdruck der letzten Wochen verloren. Meine Lippen waren voll und rot, pulsierten noch von seinen Küssen. Mein Kleid war zerknittert und an einer Stelle am Träger sogar gerissen. Ich zog es mir über den Kopf und schlüpfte in mein Nachthemd. Kurz erhaschte ich einen Blick auf rote Striemen, die seine Hände auf meiner Haut hinterlassen hatten. Sie brannten dumpf, würden aber schon in wenigen Stunden nicht mehr zu sehen sein. Ich lächelte mir zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
Matthias saß reglos auf dem Sofa, völlig bekleidet, den Kopf in die Hände gestützt. Ich blieb im Türrahmen stehen und betrachtete ihn. Im Großen und Ganzen hatte auch er sich nicht wesentlich verändert. Er wirkte immer noch angespannt – wenn auch, wie ich vermutete, aus anderen Gründen als noch Stunden zuvor. Seine Hände pressten sich an seinen Schädel, so als wollte er seinen Gedanken zwingen, sich zu ordnen. Es gab eine Menge für ihn nachzudenken. Als er schließlich aufsah, blickte er mir mit solcher Hilflosigkeit entgegen, dass ich nahe dran war, Mitleid zu haben.
„Mike und Stefan werden die Ausrede, die du ihnen auftischen wirst ohne Probleme schlucken.“, durchbrach ich die Stille.
„Das kümmert mich nicht.“ Seine Stimme klang rau und brüchig. Er räusperte sich und begrub seinen Kopf wieder in seinen Händen.
„Was sage ich Tobias?“, brachte er schließlich hervor. Ich wusste nicht, ob er eine Antwort haben wollte. Selbst wenn, ich hätte ihm keine geben können. Also schwieg ich. Ich sah ihn tief Luft holen. Er sammelte Kraft für seine nächste Frage. Ruckartig drehte er den Kopf zu mir, sah mir direkt ins Gesicht.
„Hast du wirklich mit ihm geschlafen?“
Ich nickte und sah, wie er die bittere Pille schluckte. Er schloss die Augen, versuchte sich zu beruhigen.
„Wann?“, flüsterte er.
„Samstag.“, sagte ich, überrascht, dass ich mich immer noch nicht schlecht fühlte. Ich hatte auch nicht das Bedürfnis, mich zu entschuldigen.
Matthias öffnete die Augen. Es gab noch eine wichtige Frage zu klären: „Seid ihr zusammen?“ Ich sah, wie er sich verkrampfte, wie er sich quälte zwischen Wut und Schuld und hörte einen großen erleichterten Seufzer, als ich den Kopf schüttelte.
Matthias erhob sich von der Couch. „Weiß er von uns?“
„Er hat’s erraten.“, berichtete ich wahrheitsgemäß und unterdrückte ein Lächeln. Wirklich, ich war nicht mehr dieselbe.
„Scheiße.“, zischte er zwischen seinen Zähnen hervor.
Für einen langen Augenblick betrachtete er mich. Dann kam er auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Seine Hand war nun ganz leicht an genau der Stelle, an der sie zuletzt so hart zugeschlagen hatte.
„Es tut mir leid, Klara.“ Seine Stimme flehte mich an.
„Mir nicht.“, antwortete ich gelassen.
Matthias zögerte kurz, dann küsste er mich. Als wäre es eine Wiedergutmachung.
Ich schob ihn von mir. „Ein andermal, okay?“
Er nickte und ging.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s