Der Abend war schwülwarm und ich lief langsam. Bereits nach wenigen Metern waren meine Klamotten durchnässt und Schweiß lief mir in die Augen. Tapp-Tapp-Tapp-Tapp.Trotz der Hitze fiel es mir leicht, mein mp3-Player erzählte mir die Geschichte einer verlorenen Liebe und ich spürte meinen Körper durch und durch. Es waren noch viele Menschen im Park. Die meisten lagen verstreut auf den großen Rasenflächen, schliefen, lasen oder unterhielten sich. Ich musste ausweichen als ein paar spielende Kinder meinen Weg kreuzten. Die Mütter riefen halbherzig etwas von „Aufpassen!“ und wandten sich dann schnell wieder ihren Gesprächen zu.
Ich mochte es, wenn der Park so bevölkert war. Ich lief nicht gerne in einsamen Gegenden – schon gar nicht am Abend. Viel zu viele Geschichten von Perversen in Hecken und hinter Hausmauern füllten die Zeitung. Aber jetzt war ich locker, lauschte der traurigen Liebesgeschichte in meinem Ohr und dem rhythmischen Arbeiten meiner Lunge. Ich fühlte mich stark, denn ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Matthias war auf dem Weg zurück zu mir. Ich spürte es. Woran ich es festmachte, konnte ich selbst nicht sagen. Es hatte sich an unserem Arrangement auf den ersten Blick nichts verändert. Trotzdem, ich wusste es einfach. In der letzten Zeit hatte er mich manchmal so nachdenklich angesehen. Und auch wenn ich es mir einbildete… nein, ich bildete es mir nicht ein.
„Eigentlich nicht das richtige Wetter, um zu laufen“, erschreckte mich Kai Mitterer, der junge Sportlehrer aus meiner Schule. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht und joggte jetzt locker neben mir. Ich war vor Schreck ein wenig aus dem Tritt gekommen, nahm jetzt aber die Kopfhörer aus den Ohren und sah ihn an. Er war mindestens ebenso verschwitzt wie ich. Seine nassen braunen Haare klebten ihm am Kopf und das rote Shirt war bereit zum Auswringen. „…aber den Balken im eigenen Auge sehen Sie nicht.“, konterte ich mit einem Lächeln. „Lass doch das alberne ‚Sie’. Schließlich bin ich nicht so viel älter als du. Ich bin der Kai.“
„Weiß ich doch, Kai. Ich bin die Klara.“
„Weiß ich doch, Klara.“
Er schien gar nicht so sehr aus der Puste zu sein. Wahrscheinlich hatte er sein Tempo dem meinen angepasst.
„Ich hab dich hier noch gar nicht laufen sehen.“, versuchte er ein Gespräch anzufangen.
„Doch, eigentlich bin ich hier öfter unterwegs.“, entgegnete ich. Genauer gesagt war das seit ein paar Monaten meine Hauptstrecke. Ich lief die Orte ab, an denen mich etwas an Matthias erinnerte. Stellen, an denen wir im Gras gesessen und uns gegenseitig vorgelesen hatten, Picknickecken, Biergärten in denen wir die Sommerabende genossen hatten.
„Ja dann bis bald mal wieder hier, oder auch morgen in der Schule.“, verabschiedete sich Kai „Ich muss jetzt hier lang.“ Und er bog an der nächsten Gabelung links ab. Ich winkte ihm kurz hinterher und richtete meinen Blick wieder auf den Weg vor mir. Seltsam, dieser Kai. Er hätte mich ja gar nicht anquatschen müssen für die 100 Meter. Warum war er nicht einfach hinter mir her gelaufen? Dann hätte er kein Gespräch erzwingen müssen. Ach, eigentlich war das doch nett, korrigierte ich mich. Ich hatte keinen Grund, die Dinge so negativ zu sehen. Es war ein schöner Tag heute.
Und dann sah ich sie. Zuerst war ich mir nicht ganz sicher, dann traf es mich wie ein Blitz. Sie kamen mir entgegen, händchenhaltend. Matthias und Sandra. Mein Herz setzte aus, die Luft wurde knapp. Ich lief weiter, stur in die Gewissheit, in den Schmerz. Sie hielten die Blicke gesenkt. Sie redeten. Matthias blickte erst auf, als er meine Schritte hörte. Unsere Blicke trafen sich. Ich sah den Schreck in seinen Augen und ich schickte ihm alle Verachtung, die ich aufbringen konnte. Dann war ich vorbei, nahm einen Hauch seines Duftes mit und blickte nicht zurück.
Ich lief weiter, aus Mangel an Alternativen. Mein Kopf war leer und voll zugleich. Kein Gedanke ließ sich fassen. Ich ahnte nur, dass stehen denken bedeutete und dass die Gedanken mich vernichten würden. Also lief ich. Schneller und schneller. Denn wenn ich dringend Luft zum Atmen brauchte, würde ich nicht schluchzen. Und wenn ich alles Wasser schwitzte, würde ich nicht weinen. Ich ließ den Park hinter mir, rannte zwischen Häusern, bog ab, links, rechts, rannte weiter. Meine Lungen schmerzten, doch es war ein guter Schmerz. Er überdeckte den anderen, der in mir aufbegehrte, der sein Recht forderte. Noch einmal abbiegen. Mein Puls hämmerte in meine Kopf. Auch das, sagte ich mir, war besser als nur ein einziger wirklicher Gedanke. Jetzt links. Mein Mund war trocken, meine Oberschenkel brannten. Es war mir egal, so lange ich nichts anderes fühlte, als das. Die Straße begann vor meinen Augen zu tanzen. Parkende Autos schoben sich mir in den Weg. Mein Blick wurde trüb. „Scheiße, jetzt weinst du ja doch.“, flüsterten meine Lippen, bevor ich hart auf dem Asphalt aufschlug und alles schwarz wurde.
Aus meinen Kopfhörern flüsterte immer noch diese leise Stimme und erzählte ihre traurige Liebesgeschichte.
Ich tauchte auf aus diesem Dunkel, sagte meinen Namen, als sie mich fragten und schüttelte den Kopf, denn sie wollten meine Eltern anrufen. Dann ließ ich mich wieder hinabfallen.
Erst war es nur der Schmerz an der Wange, dann der am Handgelenk, dann meine Knie und schließlich schlug es zu. Ich konnte es nicht aufhalten. Die Gedanken kamen, um mich zu zerstören. Ihre Hand in seiner. Ihr Lächeln. Sein Duft. Sein Duft. Ihr Lächeln. Ihre Hand in seiner. Messerstiche in meinem Kopf. Ich hielt es nicht aus, wollte aufstehen, wollte wieder losrennen. Aber alles an mir war schwer wie Blei.
„Frau Meyer, gut, dass sie endlich wach sind.“ Eine junge, stämmige Frau in Weiß umkreiste mein Bett und warf kontrollierende Blicke auf die Flasche über mir und die Nadel in meinem Handrücken. „Der Doktor wird gleich kommen. Haben sie Schmerzen?“
Ich schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Doch.
„Der Kopf, hm? Das ist der Flüssigkeitsmangel, das dürfte bald besser werden. Außerdem sind sie ja schon ganz schön hart aufgeschlagen.“
Das war ich. In der Tat.
Der Stationsarzt kam und erklärte mir, dass man mich bewusstlos von der Straße gekratzt hatte, dass meine Diagnose „Hitzschlag“ lautete und dass ich neben Abschürfungen im Gesicht und an den Knien auch noch ein geprelltes rechtes Handgelenk mein eigen nennen durfte. Er hielt mir einen Vortrag über die Gefahren der Selbstüberschätzung im Sport vor allem bei hohen Temperaturen und betonte, dass alles noch viel schlimmer hätte ausgehen können. Ich hätte Glück gehabt.
Und doch fühlte ich mich nicht glücklich. Ich fühlte mich verraten.
Nach einer unruhigen Nacht voller ungewollter Bilder und ohne Schlaf, zogen sie die Nadel aus meinem Arm und schickten mich nach Hause.
Cordula holte mich ab. Sie stellte eine Menge Fragen und bekam nur die nötigsten Antworten. Eigentlich hatte sie mehr verdient.
Nachdem ich die Wohnungstür vor Cordulas Nase und hinter meinem Rücken geschlossen hatte, humpelte ich ins Badezimmer und zog mich aus. Langsam, umständlich und nachlässig. Es war schwer nur mit der linken Hand. Dann wickelte ich vorsichtig den Verband von meiner Rechten, sog scharf die Luft ein, als es schmerzte und betrachtete das blaugrüne Farbenspiel an meinem Handgelenk. Ich stieg in die Dusche und drehte auf. Erst lauwarm, dann immer kälter. Das eisige Wasser raubte mir den Atem, schlug schmerzend auf meine Haut und rüttelte mich wach. Mit jedem kalten Wassertropfen, tropfte auch die Betäubung von meinem Körper. Klare Gedanken formten sich. Schmerzvoll, aber berechenbar. Ich merkte, ich konnte sie kontrollieren. Sie konnten mich nicht um den Verstand bringen. Und als ich zitternd vor Kälte endlich das Wasser abdrehte, war ich wieder ein bisschen mehr ich selbst.
Erst als ich mich angezogen hatte und durch die Wohnung ging, um die Fenster aufzureißen, bemerkte ich, dass mein Anrufbeantworter blinkte.
„Sie haben zwei neue Nachrichten. Nachricht eins: Freitag, 8 Uhr 32:“
„Grüß Gott, Frau Meyer, hier ist Riemschneider von der Privatschule Piendl. Wenn Sie bitte zurückrufen könnten, danke!“
„Nachricht zwei: Donnerstag, 18 Uhr 12“ Und dann seine Stimme.
„Klara, wenn du zu Hause bist: Ruf mich an bitte!“
„Sie haben keine weiteren Nachrichten.“
Neben dem Telefon lag mein Handy. Acht Anrufe in Abwesenheit. Zweimal die Nummer der Schule, zweimal Cordula, einmal Karin. Dreimal Matthias.
Eine SMS: „Ruf an!“
from: klara.m78@yahoo.de
to: verenababy@hotmail.com
subj: Katerstimmung
Sa 12 Jun 2005 19:13
schreib ruhig, wie recht du hattest. schreib ruhig, dass du es gewusst hast. das macht es nicht besser und nicht schlechter.
ich habe matthias gestern mit sandra gesehen (die sandra aus meinem seminar – du weißt schon). sie haben sich an den händen gehalten und sind durch den park spaziert.
und weißt du, was das schlimmste ist? ich hätte es kommen sehen müssen. aber ich hab’s nicht. ja, ich weiß, DU hast.
das war es jetzt also endgültig. vorbei. katerstimmung. aber wenigstens bin ich endlich aufgewacht.
hilft rollmops gegen wut und enttäuschung?
das ende einer rauschgeschichte,
klara
ps: habe mich am donnertstag – kurz nach meinem zusammentreffen mit matthias – übrigens mächtig auf die schnauze gelegt. war wohl zu heiß. knie und gesicht sind aufgeschürft und ich hab mir das handgelenk geprellt (tippe mit links – klappt SPITZE! )
Damit hatte ich tatsächlich nicht gerechnet. Und ich wollte die Tür schon wieder schließen, noch ehe ich sie ganz geöffnet hatte. Doch Matthias war schneller. Er schob mich mitsamt der Tür zur Seite und stand im Flur. Ich war überrumpelt und erschrocken, so dass mein Kopf keine logischen Signale sandte. Also schloss ich die Tür und beobachtete Matthias, wie er sich mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit in meiner Wohnung stand. „Hey, sag mal, warum gehst du eigentlich nicht ans Telefon…?“, sprudelte er heraus, noch ehe er ganz im Raum war. Dann drehte er sich zu mir um. „Mein Gott, Klara, was ist denn mit dir passiert?“ Erst da machten sich die Schmerzen in meinem Körper wieder bemerkbar und ich war mir bewusst, wie grotesk ich aussehen musste.
„Was willst du hier?“ Es war mehr ein Rauswurf als eine Frage, denn ich spürte in mir die Wut knacken, wie Popcorn. Noch war es aufzuhalten.
„Was werde ich hier schon wollen?“, fragte er mit anzüglichem Unterton und ich Begriff. Wenn ich es auch kaum glauben konnte. Das konnte doch jetzt nicht sein Ernst sein. Offensichtlich hatte er beschlossen, unsere Begegnung im Park zu ignorieren und so zu tun, als wäre alles wie immer. Knack-Knack.
„Mal ehrlich, Klara, was hast du angestellt? Das sieht echt übel aus.“ Er kam auf mich zu und wollte mir die Haare aus dem Gesicht streichen, doch ich zuckte zurück. Er erstarrte in der Bewegung. „Was ist los mit dir?“
Knack.
Ich drängte mich an ihm vorbei und humpelte ein paar Schritte – nur weg von ihm. Seine Masche würde nicht ziehen. Heute nicht.
„Was mit MIR los ist? Du fragst das im Ernst? DU willst wissen was mit MIR los ist?“ Es waren keine Fragen, doch er wollte antworten. Wut knallte in meinem Körper und ich fuhr ihm über den Mund, noch ehe er ein Wort gesagt hatte.
„Du kommst hierher… du hast die Frechheit hierher zu kommen und zu fragen, was mit MIR los ist?! Du hast sie doch nicht mehr alle! Du fickst diese kleine Schlampe und kommst dann zu mir! Du wagst es…“, ich musste Luft holen.
„Hey, Klara…“
„Nein, sei still!“, spuckte ich rasend vor Zorn. Sein Blick war unsicher, seine Augen suchten Halt und ich genoss es. Ich wollte ihm weh tun. Und ich wollte ihm meine Wunden zeigen. „Du machst Schluss – ich lasse mich wegschicken. Du erzählst mir Lügen – ich fresse sie. Du willst Sex – ich lasse dich unter meinen Rock kriechen. Du willst, dass es niemand weiß – ich lasse mir von dir den Mund verbieten. Du machst mir Hoffnung – ich lasse mich von dir auf der Straße ficken! Aber ich lasse es nicht zu, dass du mich betrügst!“
Das Echo meiner Worte hallte in die plötzliche Stille. Er sagte nichts, stand nur da. Ich atmete heftig. Ich hatte mir sämtliche Blöße gegeben. Mein Hals schmerzte. Irgendetwas in seinem Inneren hatte ich wohl getroffen. Seine Augen verrieten es. Und sein Gesicht, das jeglichen Ausdruck verloren hatte. Doch mit einem Blinzeln war das alles wieder verschwunden.
Dann endlich bewegte er sich. Mit zwei Schritten war er bei mir. Er sprach leise und strafte mich damit für meine Wut.
„Du verstehst da etwas völlig falsch.“, sagte er ruhig und sein Atem streifte mein Gesicht. Seine Hand glitt langsam von meiner Schulter zu meiner gesunden Hand. Ich hielt still, ertrug seine Nähe und die Sehnsucht die sie weckte. Er beugte sich vor und flüsterte: „Ich habe nicht dich mit ihr betrogen. Ich habe sie mit dir betrogen.“
Der Sinn seiner Worte traf mich hart. Mir wurde schwindlig. Ich schloss die Augen, rang nach Fassung, riss mich zusammen. Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in die seinen.
„Verschwinde.“, zischte ich „Verschwinde.“