Da stand ich nun, blickte auf den Waldmeister zu meinen Füßen und fragte mich, ob es pietätlos wäre, hinterher ein paar Stängel für das Schulprojekt meiner Tochter mitzunehmen. Gleich darauf rief ich mich zur Ordnung. Ich war nicht hier, um Waldmeister zu pflücken. Ich war hier – an der sogenannten „Verbrennungsstelle“ des ehemaligen Konzentrationslagers Saal an der Donau – um an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Es war mir wichtig gewesen, herzukommen. Mein Theaterstück „Kartoffelkathi“ basiert auf einer Geschichte, die sich zur Zeit dieser schrecklichen Ereignisse in Saal abgespielt haben soll. Irgendwie fand ich, ich wäre es schuldig mich zumindest auf der Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestags der Lagerbefreiung einzufinden. Schuldig, wem auch immer.
Musik. Briefe von Zeitzeugen. Musik. Briefe von ehemaligen Häftlingen. Musik. Eine kurze Ansprache eines Überlebenden. Musik. Die Enthüllung einer Gedenktafel. Musik. Stimmungsvoll, berührend, beklemmend. Dabei war es nichts, was ich noch nie gehört hätte. Ich hatte schließlich Geschichtsunterricht gehabt, ich kenne Filme, Bücher und Fernsehdokumentationen zu diesem Thema. Ich habe für mein Theaterstück ein wenig recherchiert. Aber da zu sein, an solch einem grausigen Ort und die Worte direkt Betroffener zu hören, war noch einmal etwas ganz anderes. Was würde ich also mitnehmen von so einer Gedenkveranstaltung? Würde ich überhaupt etwas mitnehmen?
Ich sah ihn mir an, den Überlebenden der gekommen war, um uns noch einmal seine Geschichte zu erzählen. 93 Jahre alt, die Stimme leise und sanft. Wieder glitten meine Gedanken ab. Zurück zum Waldmeister auf dem Boden. An den Beinen der Zuhörer hoch, auf ihre sonnenbeschienenen, grauen Häupter. Es waren viele ältere Menschen gekommen.

KZ-Gedenkweg an der Teugner Straße in Saal a.d. Donau
Zu spät, dachte ich mir plötzlich. Es ist zu spät. Die Zeitzeugen werden immer weniger. In ein paar Jahren wir niemand mehr da sein, der uns seine Geschichte erzählen könnte. Was dann? Werden dann Geschichtsbücher und Fernsehdokumentationen ausreichen müssen? Unpersönlich und weit weg?
Mit einem Mal begriff ich, dass auch ich mich zuständig fühlen sollte. Dass ich nicht länger diejenige sein sollte, die sich die Geschichten nur anhört, die sich mahnen lässt. Ich sollte diese Geschichten vielmehr weitererzählen. Damit auch meine Kinder begreifen, wie weit es kommen kann, wenn man die Zeichen nicht sieht. Mit Sicherheit ist das nicht annähernd so beeindruckend, wie die Geschichten von Zeitzeugen selbst zu hören – aber besser als nichts.
Das also habe ich mitgenommen von dieser einen Stunde an einem bedrückenden Ort am Rande meines Heimatdorfes. Das – und dann doch ein paar Stängel Waldmeister.